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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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unsern Decennien, namentlich an den Grenzen Deutschlands, hat und
kann, so sehr dieselbe mit geistigen Mitteln unterhalten wird, noch kei¬
nen andern Sinn haben, als den der Wahrung oder Herrschaft ihrer
materiellen Volkskraft. Erst in dem achtzehnten Jahrhundert tritt die¬
selbe durch die Vermittelung der französischen Revolution in eine neue
Phase, indem sie in der jugendlichen Umarmung der Freiheit sich auf
die Stufe der ächten Nationalität und ihrer wahren Bestimmung er¬
hebt. Von da ab erscheint die "Nation" in ihrer Größe rein als solche,
ohne alle Verhüllung und erst in dieser Wendung daher, von allem
ungelenken Partikularismus befreit, bildet sie eine bestimmte und be¬
stimmende, charakterisierende, für sich selbst zu fassende und herauszuhe¬
bende, geschichtliche Macht. Das Charakterische des modernen Zeit¬
alters überhaupt ist, daß in ihm der Mensch als Mensch, die Person
als Person und damit das einzelne menschliche Individuum für sich
selber in seiner Individualität für göttlich und unendlich erkannt wurde.
Das selbstbewußte Individuum ist wesentlich revolutionair und die erste
Form, in der es sich ausspricht, die des directen und indirekten Bruchs
mit dem Alten. Aber es müßte an sich selbst zerschellen, wenn es, da-'
bei sich befriedigend, die pure nackte Persönlichkeit allein als ein Abso¬
lutes festhielte, vor dem das Eine in jeder Sache, das Allgemeine, das
Ganze, das wahrhaft Wirkliche und Wesenhafte verschwindet. Für
diese meine bloße Persönlichkeit gibt es keine Welt. -- Nicht anders
verhält sich die Volkspersönlichkeit und Volksindividualität. Als eine
besondere Knospe des weltgeschichtlichen Lebensbaums hat sie nur dann
die Anwartschaft auf eine dankbare Frucht desselben, wenn sie sich von
dem Saft und Mark der Freiheit durchdrungen fühlt. Völker werden
nur dann Nationen, wenn ihnen das Blut der Freiheit aus dem Her¬
zen quillt und sie den Geist derselben als ihr ultor vz;o in ihr inner¬
stes Dasein aufgenommen haben. Darum beruft sich der verständige
Liberalismus in Frankreich, dessen Herz jetzt unter der Orthodoxie sei¬
nes Kopfes, -- des gewöhnlich am spätesten frei werdenden -- ge¬
dämpfter schlägt, nicht mehr auf die Würde der Nation, sondern auf
den Kern des peuple, (diesen mit jener transcribirend), aber darum
auch kann das deutsche Volkswesen noch immer kein frischeres Hoff¬
nungsgrün erzeugen und der Sonne der Menschheit entgegenglühen
lassen, als den gelblichen Schimmer, der aus seiner nationalen Papier¬
müh le stäckt. Denn vor ihrer "vo/ita"dia et ccmso^r-ello in nominv
lidertstis verdienen die Nationen diesen Ehrennamen nicht und können
ihn nur gewaltsam nsmpiren für den Embryo-Brei ihres künftigen


unsern Decennien, namentlich an den Grenzen Deutschlands, hat und
kann, so sehr dieselbe mit geistigen Mitteln unterhalten wird, noch kei¬
nen andern Sinn haben, als den der Wahrung oder Herrschaft ihrer
materiellen Volkskraft. Erst in dem achtzehnten Jahrhundert tritt die¬
selbe durch die Vermittelung der französischen Revolution in eine neue
Phase, indem sie in der jugendlichen Umarmung der Freiheit sich auf
die Stufe der ächten Nationalität und ihrer wahren Bestimmung er¬
hebt. Von da ab erscheint die „Nation" in ihrer Größe rein als solche,
ohne alle Verhüllung und erst in dieser Wendung daher, von allem
ungelenken Partikularismus befreit, bildet sie eine bestimmte und be¬
stimmende, charakterisierende, für sich selbst zu fassende und herauszuhe¬
bende, geschichtliche Macht. Das Charakterische des modernen Zeit¬
alters überhaupt ist, daß in ihm der Mensch als Mensch, die Person
als Person und damit das einzelne menschliche Individuum für sich
selber in seiner Individualität für göttlich und unendlich erkannt wurde.
Das selbstbewußte Individuum ist wesentlich revolutionair und die erste
Form, in der es sich ausspricht, die des directen und indirekten Bruchs
mit dem Alten. Aber es müßte an sich selbst zerschellen, wenn es, da-'
bei sich befriedigend, die pure nackte Persönlichkeit allein als ein Abso¬
lutes festhielte, vor dem das Eine in jeder Sache, das Allgemeine, das
Ganze, das wahrhaft Wirkliche und Wesenhafte verschwindet. Für
diese meine bloße Persönlichkeit gibt es keine Welt. — Nicht anders
verhält sich die Volkspersönlichkeit und Volksindividualität. Als eine
besondere Knospe des weltgeschichtlichen Lebensbaums hat sie nur dann
die Anwartschaft auf eine dankbare Frucht desselben, wenn sie sich von
dem Saft und Mark der Freiheit durchdrungen fühlt. Völker werden
nur dann Nationen, wenn ihnen das Blut der Freiheit aus dem Her¬
zen quillt und sie den Geist derselben als ihr ultor vz;o in ihr inner¬
stes Dasein aufgenommen haben. Darum beruft sich der verständige
Liberalismus in Frankreich, dessen Herz jetzt unter der Orthodoxie sei¬
nes Kopfes, — des gewöhnlich am spätesten frei werdenden — ge¬
dämpfter schlägt, nicht mehr auf die Würde der Nation, sondern auf
den Kern des peuple, (diesen mit jener transcribirend), aber darum
auch kann das deutsche Volkswesen noch immer kein frischeres Hoff¬
nungsgrün erzeugen und der Sonne der Menschheit entgegenglühen
lassen, als den gelblichen Schimmer, der aus seiner nationalen Papier¬
müh le stäckt. Denn vor ihrer «vo/ita»dia et ccmso^r-ello in nominv
lidertstis verdienen die Nationen diesen Ehrennamen nicht und können
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[0350] unsern Decennien, namentlich an den Grenzen Deutschlands, hat und kann, so sehr dieselbe mit geistigen Mitteln unterhalten wird, noch kei¬ nen andern Sinn haben, als den der Wahrung oder Herrschaft ihrer materiellen Volkskraft. Erst in dem achtzehnten Jahrhundert tritt die¬ selbe durch die Vermittelung der französischen Revolution in eine neue Phase, indem sie in der jugendlichen Umarmung der Freiheit sich auf die Stufe der ächten Nationalität und ihrer wahren Bestimmung er¬ hebt. Von da ab erscheint die „Nation" in ihrer Größe rein als solche, ohne alle Verhüllung und erst in dieser Wendung daher, von allem ungelenken Partikularismus befreit, bildet sie eine bestimmte und be¬ stimmende, charakterisierende, für sich selbst zu fassende und herauszuhe¬ bende, geschichtliche Macht. Das Charakterische des modernen Zeit¬ alters überhaupt ist, daß in ihm der Mensch als Mensch, die Person als Person und damit das einzelne menschliche Individuum für sich selber in seiner Individualität für göttlich und unendlich erkannt wurde. Das selbstbewußte Individuum ist wesentlich revolutionair und die erste Form, in der es sich ausspricht, die des directen und indirekten Bruchs mit dem Alten. Aber es müßte an sich selbst zerschellen, wenn es, da-' bei sich befriedigend, die pure nackte Persönlichkeit allein als ein Abso¬ lutes festhielte, vor dem das Eine in jeder Sache, das Allgemeine, das Ganze, das wahrhaft Wirkliche und Wesenhafte verschwindet. Für diese meine bloße Persönlichkeit gibt es keine Welt. — Nicht anders verhält sich die Volkspersönlichkeit und Volksindividualität. Als eine besondere Knospe des weltgeschichtlichen Lebensbaums hat sie nur dann die Anwartschaft auf eine dankbare Frucht desselben, wenn sie sich von dem Saft und Mark der Freiheit durchdrungen fühlt. Völker werden nur dann Nationen, wenn ihnen das Blut der Freiheit aus dem Her¬ zen quillt und sie den Geist derselben als ihr ultor vz;o in ihr inner¬ stes Dasein aufgenommen haben. Darum beruft sich der verständige Liberalismus in Frankreich, dessen Herz jetzt unter der Orthodoxie sei¬ nes Kopfes, — des gewöhnlich am spätesten frei werdenden — ge¬ dämpfter schlägt, nicht mehr auf die Würde der Nation, sondern auf den Kern des peuple, (diesen mit jener transcribirend), aber darum auch kann das deutsche Volkswesen noch immer kein frischeres Hoff¬ nungsgrün erzeugen und der Sonne der Menschheit entgegenglühen lassen, als den gelblichen Schimmer, der aus seiner nationalen Papier¬ müh le stäckt. Denn vor ihrer «vo/ita»dia et ccmso^r-ello in nominv lidertstis verdienen die Nationen diesen Ehrennamen nicht und können ihn nur gewaltsam nsmpiren für den Embryo-Brei ihres künftigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/350>, abgerufen am 24.07.2024.