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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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nun von je zwanzig zu zwanzig Zeiten in seinem "Gerte's" nach. Auf
der vierten Spalte bedauerte er, nicht "Gerte's Abenteuer einer Neujahrs¬
nacht" aufführen sehen zu können, da man dieses treffliche Lustspiel schon
zu oft gegeben, tröstete sich aber mit der Hoffnung "Gerte's und Uffo
Horn's Vormundschaft" sehen zu können. Auf der achten Spalte end¬
lich bedauert er, daß, nachdem er sämmtliche Sommitäten Prag's be¬
reits kennen gelernt hat, es ihm doch nicht gelingen konnte den Schrift¬
steller "Gerte" zu Gesichte zu bekommen; auf der neunten Spalte macht
er noch immer Versuche "Gerte" zu sehen und auf der zehnten reif't er
richtig ab, ohne "Gerte" kennen gelernt zu haben. Der Unglückliche!

Dies Spiel mit sich selbst, das bei andern Gelegenheiten nicht
scharf genug zu verdammen wäre, ist hier harmlos zu nehmen, da es
eben nur unwichtigen Dingen galt. Es war das unwillkürliche Auf¬
raffen eines alten Mannes, der fühlt, daß seine Zeit um ist und daher
alle Anstrengungen macht, um nicht in Vergessenheit zu gerathen, um
über dem Wasser sich aufrecht zu erhalten. Doch hat ihn das Schick¬
sal erreicht und das Tragische dabei ist, daß er dies gefühlt und deshalb
der Verzweiflung und dem Wahnsinn verfiel. In Mitte einer ganz
neuen Generation, deren Streben ein von der frühern Zeit so verschiede¬
nes ist, fühlte sich der alte Literat, der früher der erste Grenadier, der
erste Schriftsteller Prag's war, vereinsamt und beseitigt; mancher grüne
Baum wuchs neben ihm auf, dessen Wurzeln er nicht begriff.
Vergebens stürzte er sich von Neuem in Mitte dieser Jugend, die jetzt
in Prag theils für, theils gegen die wiedergefundene Nationalität kämpft,
sie sahen ihn befremdet an, wie ein Gespenst, das den Hahnenschlag
überhört hat und bei lichtem Tag umherwandelt. -- Das fühlte er und
nahm sich's zu Herzen und wurde tiefsinnig und floh die Menschen.
Und in einer finstern Nacht, wo die Verzweiflung über seine Leere sein
Herz mit ihren spitzesten Krallen erfaßte, da raffte er sich auf und
stürzte hin zu der Moldaubrücke, von deren Höhe er den geliebten Hei-
mathsstrom zweiundsiebzig Jahre gleichmäßig hinrauschen gesehen; es war
noch immer derselbe, seine blauen Wellen waren die einzigen, die sich
gleichgeblieben in dieser wandelbaren Welt -- es war der alte wohlbe¬
kannte Jugendfreund noch, und mit einem Sprunge warf er sich in
seine Arme.

Er war Lein Selbstmörder -- die Zeit hatte ihn getestet! Die
Zeit und jenes Princip, das keine Gelehrten, sondern nur gute Unter¬
thanen brauchte, in diesem Princip faulem die Geister wie die alten
Baume, die man den Strom hinabschwemmt. Gehörig gepflanzt, hatten
sie noch lange Schatten gegeben, und hätten zuletzt immer noch als Bau¬
holz, statt als Küchenholz geendigt.


I. Kuranda.
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nun von je zwanzig zu zwanzig Zeiten in seinem „Gerte's" nach. Auf
der vierten Spalte bedauerte er, nicht „Gerte's Abenteuer einer Neujahrs¬
nacht" aufführen sehen zu können, da man dieses treffliche Lustspiel schon
zu oft gegeben, tröstete sich aber mit der Hoffnung „Gerte's und Uffo
Horn's Vormundschaft" sehen zu können. Auf der achten Spalte end¬
lich bedauert er, daß, nachdem er sämmtliche Sommitäten Prag's be¬
reits kennen gelernt hat, es ihm doch nicht gelingen konnte den Schrift¬
steller „Gerte" zu Gesichte zu bekommen; auf der neunten Spalte macht
er noch immer Versuche „Gerte" zu sehen und auf der zehnten reif't er
richtig ab, ohne „Gerte" kennen gelernt zu haben. Der Unglückliche!

Dies Spiel mit sich selbst, das bei andern Gelegenheiten nicht
scharf genug zu verdammen wäre, ist hier harmlos zu nehmen, da es
eben nur unwichtigen Dingen galt. Es war das unwillkürliche Auf¬
raffen eines alten Mannes, der fühlt, daß seine Zeit um ist und daher
alle Anstrengungen macht, um nicht in Vergessenheit zu gerathen, um
über dem Wasser sich aufrecht zu erhalten. Doch hat ihn das Schick¬
sal erreicht und das Tragische dabei ist, daß er dies gefühlt und deshalb
der Verzweiflung und dem Wahnsinn verfiel. In Mitte einer ganz
neuen Generation, deren Streben ein von der frühern Zeit so verschiede¬
nes ist, fühlte sich der alte Literat, der früher der erste Grenadier, der
erste Schriftsteller Prag's war, vereinsamt und beseitigt; mancher grüne
Baum wuchs neben ihm auf, dessen Wurzeln er nicht begriff.
Vergebens stürzte er sich von Neuem in Mitte dieser Jugend, die jetzt
in Prag theils für, theils gegen die wiedergefundene Nationalität kämpft,
sie sahen ihn befremdet an, wie ein Gespenst, das den Hahnenschlag
überhört hat und bei lichtem Tag umherwandelt. — Das fühlte er und
nahm sich's zu Herzen und wurde tiefsinnig und floh die Menschen.
Und in einer finstern Nacht, wo die Verzweiflung über seine Leere sein
Herz mit ihren spitzesten Krallen erfaßte, da raffte er sich auf und
stürzte hin zu der Moldaubrücke, von deren Höhe er den geliebten Hei-
mathsstrom zweiundsiebzig Jahre gleichmäßig hinrauschen gesehen; es war
noch immer derselbe, seine blauen Wellen waren die einzigen, die sich
gleichgeblieben in dieser wandelbaren Welt — es war der alte wohlbe¬
kannte Jugendfreund noch, und mit einem Sprunge warf er sich in
seine Arme.

Er war Lein Selbstmörder — die Zeit hatte ihn getestet! Die
Zeit und jenes Princip, das keine Gelehrten, sondern nur gute Unter¬
thanen brauchte, in diesem Princip faulem die Geister wie die alten
Baume, die man den Strom hinabschwemmt. Gehörig gepflanzt, hatten
sie noch lange Schatten gegeben, und hätten zuletzt immer noch als Bau¬
holz, statt als Küchenholz geendigt.


I. Kuranda.
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[0323] nun von je zwanzig zu zwanzig Zeiten in seinem „Gerte's" nach. Auf der vierten Spalte bedauerte er, nicht „Gerte's Abenteuer einer Neujahrs¬ nacht" aufführen sehen zu können, da man dieses treffliche Lustspiel schon zu oft gegeben, tröstete sich aber mit der Hoffnung „Gerte's und Uffo Horn's Vormundschaft" sehen zu können. Auf der achten Spalte end¬ lich bedauert er, daß, nachdem er sämmtliche Sommitäten Prag's be¬ reits kennen gelernt hat, es ihm doch nicht gelingen konnte den Schrift¬ steller „Gerte" zu Gesichte zu bekommen; auf der neunten Spalte macht er noch immer Versuche „Gerte" zu sehen und auf der zehnten reif't er richtig ab, ohne „Gerte" kennen gelernt zu haben. Der Unglückliche! Dies Spiel mit sich selbst, das bei andern Gelegenheiten nicht scharf genug zu verdammen wäre, ist hier harmlos zu nehmen, da es eben nur unwichtigen Dingen galt. Es war das unwillkürliche Auf¬ raffen eines alten Mannes, der fühlt, daß seine Zeit um ist und daher alle Anstrengungen macht, um nicht in Vergessenheit zu gerathen, um über dem Wasser sich aufrecht zu erhalten. Doch hat ihn das Schick¬ sal erreicht und das Tragische dabei ist, daß er dies gefühlt und deshalb der Verzweiflung und dem Wahnsinn verfiel. In Mitte einer ganz neuen Generation, deren Streben ein von der frühern Zeit so verschiede¬ nes ist, fühlte sich der alte Literat, der früher der erste Grenadier, der erste Schriftsteller Prag's war, vereinsamt und beseitigt; mancher grüne Baum wuchs neben ihm auf, dessen Wurzeln er nicht begriff. Vergebens stürzte er sich von Neuem in Mitte dieser Jugend, die jetzt in Prag theils für, theils gegen die wiedergefundene Nationalität kämpft, sie sahen ihn befremdet an, wie ein Gespenst, das den Hahnenschlag überhört hat und bei lichtem Tag umherwandelt. — Das fühlte er und nahm sich's zu Herzen und wurde tiefsinnig und floh die Menschen. Und in einer finstern Nacht, wo die Verzweiflung über seine Leere sein Herz mit ihren spitzesten Krallen erfaßte, da raffte er sich auf und stürzte hin zu der Moldaubrücke, von deren Höhe er den geliebten Hei- mathsstrom zweiundsiebzig Jahre gleichmäßig hinrauschen gesehen; es war noch immer derselbe, seine blauen Wellen waren die einzigen, die sich gleichgeblieben in dieser wandelbaren Welt — es war der alte wohlbe¬ kannte Jugendfreund noch, und mit einem Sprunge warf er sich in seine Arme. Er war Lein Selbstmörder — die Zeit hatte ihn getestet! Die Zeit und jenes Princip, das keine Gelehrten, sondern nur gute Unter¬ thanen brauchte, in diesem Princip faulem die Geister wie die alten Baume, die man den Strom hinabschwemmt. Gehörig gepflanzt, hatten sie noch lange Schatten gegeben, und hätten zuletzt immer noch als Bau¬ holz, statt als Küchenholz geendigt. I. Kuranda. 42-i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/323>, abgerufen am 26.07.2024.