Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.So lauge der Großvater lebte, hatte Großmama an diesem einen Ich habe später oft an meinen Großvater gedacht, besonders als Wenn Großpapa an einem Sonntage, wo er in der Kirche ge¬ So lauge der Großvater lebte, hatte Großmama an diesem einen Ich habe später oft an meinen Großvater gedacht, besonders als Wenn Großpapa an einem Sonntage, wo er in der Kirche ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0302" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183323"/> <p xml:id="ID_905"> So lauge der Großvater lebte, hatte Großmama an diesem einen<lb/> steten Begleiter ans dem Wege in die Kirche; Beide waren gleich<lb/> fromm. — Großpapa war ein Musikant; er konnte geigen, wenn auch<lb/> nicht wie Ole Bull und Paganini, so doch so gut wie irgend ein<lb/> Dorfmusirus, der des Sonntags in's Wirthshaus geht und für einige<lb/> Silbergroschen den Leuten aufspielt. So lange er lebte, ging er jeden<lb/> Sonntag auf das Orgelchor in der Kirche und half dem Schulmeister<lb/> Musik machen. Auch singen konnte er; aber ich zweifle, ob sein Ge¬<lb/> sang auf den Bühnen von London, Berlin, Paris in der Oper würde<lb/> Beifall gefunden haben. Mit Nubini hätte er sich nicht messen kön¬<lb/> nen. Seine Stimme war grob und ohne alle Dressur; und als er<lb/> alt war, sehr heiser. — Aber dennoch sang er gern, und selbst in der<lb/> Kirche. In der Oster- und Charwoche, wo in den katholischen Got¬<lb/> teshäusern die Passionsgeschichte vom Chöre herabgesungen wird, über¬<lb/> nahm er die Rolle des Pilatus und sang seine Partie mit einem un¬<lb/> geheuren Baß ab. — O, ich beklage alle diejenigen, welche ihn nicht<lb/> gehört haben, wenn er am stillen Freitag oder am Ostersonnabende<lb/> sang: „Was ist Wahrheit?" oder: „Ich habe keine Schuld an dem<lb/> Tode dieses Gerechten." — Auch die Rolle des schlechten Judas über¬<lb/> nahm er ein- oder zweimal, gab sie aber bald wieder auf, und griff<lb/> zu der des Pilatus.</p><lb/> <p xml:id="ID_906"> Ich habe später oft an meinen Großvater gedacht, besonders als<lb/> Student, wo ich mich einige Zeit sehr eifrig auf das Suchen der<lb/> Wahrheit verlegte, und ihr zu Liebe täglich einige Stunden den Staub<lb/> der Auditorien einschluckte. Die Frage des Pilatus: „Was ist Wahr¬<lb/> heit?" kam mir dann immer in den Sinn, und ich lernte einsehen,<lb/> daß sie einen Sterblichen zur Verzweiflung bringen könne, Pilatus<lb/> ist der größte skeptische Philosoph, der je gelebt hat. Sein: „was ist<lb/> Wahrheit?" beweis't dieses. —</p><lb/> <p xml:id="ID_907"> Wenn Großpapa an einem Sonntage, wo er in der Kirche ge¬<lb/> sungen, nach Hause kam, so war er die Freude lind das Entzücken<lb/> selbst. In seinen Augen glühte dann ein mildes Feuer, auf seiner<lb/> Apostelstirn lag eine heilige, erhabene Ruhe, seine Lippen bewegten sich<lb/> bisweilen und murmelten Worte, die aber Niemand verstand. — Wo¬<lb/> her kam seine Wonne? Lediglich aus dem Gefühl der Freude, die je¬<lb/> der Mensch hat, wenn er an einer Sache mitwirken darf, die seine<lb/> ganze Seele erfüllt. Großpapa glaubte jedesmal um eine Stufe hö¬<lb/> her zu steigen in der Gnade bei Gott, so oft er in der Kirche mu-<lb/> stritte.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0302]
So lauge der Großvater lebte, hatte Großmama an diesem einen
steten Begleiter ans dem Wege in die Kirche; Beide waren gleich
fromm. — Großpapa war ein Musikant; er konnte geigen, wenn auch
nicht wie Ole Bull und Paganini, so doch so gut wie irgend ein
Dorfmusirus, der des Sonntags in's Wirthshaus geht und für einige
Silbergroschen den Leuten aufspielt. So lange er lebte, ging er jeden
Sonntag auf das Orgelchor in der Kirche und half dem Schulmeister
Musik machen. Auch singen konnte er; aber ich zweifle, ob sein Ge¬
sang auf den Bühnen von London, Berlin, Paris in der Oper würde
Beifall gefunden haben. Mit Nubini hätte er sich nicht messen kön¬
nen. Seine Stimme war grob und ohne alle Dressur; und als er
alt war, sehr heiser. — Aber dennoch sang er gern, und selbst in der
Kirche. In der Oster- und Charwoche, wo in den katholischen Got¬
teshäusern die Passionsgeschichte vom Chöre herabgesungen wird, über¬
nahm er die Rolle des Pilatus und sang seine Partie mit einem un¬
geheuren Baß ab. — O, ich beklage alle diejenigen, welche ihn nicht
gehört haben, wenn er am stillen Freitag oder am Ostersonnabende
sang: „Was ist Wahrheit?" oder: „Ich habe keine Schuld an dem
Tode dieses Gerechten." — Auch die Rolle des schlechten Judas über¬
nahm er ein- oder zweimal, gab sie aber bald wieder auf, und griff
zu der des Pilatus.
Ich habe später oft an meinen Großvater gedacht, besonders als
Student, wo ich mich einige Zeit sehr eifrig auf das Suchen der
Wahrheit verlegte, und ihr zu Liebe täglich einige Stunden den Staub
der Auditorien einschluckte. Die Frage des Pilatus: „Was ist Wahr¬
heit?" kam mir dann immer in den Sinn, und ich lernte einsehen,
daß sie einen Sterblichen zur Verzweiflung bringen könne, Pilatus
ist der größte skeptische Philosoph, der je gelebt hat. Sein: „was ist
Wahrheit?" beweis't dieses. —
Wenn Großpapa an einem Sonntage, wo er in der Kirche ge¬
sungen, nach Hause kam, so war er die Freude lind das Entzücken
selbst. In seinen Augen glühte dann ein mildes Feuer, auf seiner
Apostelstirn lag eine heilige, erhabene Ruhe, seine Lippen bewegten sich
bisweilen und murmelten Worte, die aber Niemand verstand. — Wo¬
her kam seine Wonne? Lediglich aus dem Gefühl der Freude, die je¬
der Mensch hat, wenn er an einer Sache mitwirken darf, die seine
ganze Seele erfüllt. Großpapa glaubte jedesmal um eine Stufe hö¬
her zu steigen in der Gnade bei Gott, so oft er in der Kirche mu-
stritte.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |