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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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sage", welche sich in Berlin immer weiter auszubreiten sucht und de¬
ren Bemühungen äusserst gefährlich für den gesunden Zustand des
Volkes werden. Unsere Bourgeoisie in ihrer Nüchternheit ist im Durch¬
schnitt noch ziemlich unempfänglich für den Pietismus geblieben, sie
hält entweder an einer derben Orlhvdorie oder an einem bequemen
Rationalismus fest, aber in den höheren und in den tieferen Sphären
unserer Gesellschaft hat der Pietismus seine breiten Wurzeln geschla¬
gen. In den höheren Sphären wird er begünstigt durch die körper¬
liche und geistige Verweichlichung, welche in ihnen herrscht, durch die
Erschöpfltng aller Lebensgenusse, welche in ihnen eingetreten, durch eine
trostlose Verzweiflung an der menschlichen Vernunft, deren Größe
und Tiefe nirgends erkannt wurde, oder durch eine widerliche Heuche¬
lei, welche unter der Maske der Frömmigkeit ganz anderen als hinzu---
lischen Interessen nachstrebt. In den untern Kreisen unserer Gesell¬
schaft verschafft sich der Pietismus eine Stütze an der Selbstverzweif¬
lung, welche die Folge der Entsagung, der Unterthänigkeit, des Elendes
geworden und noch mehr durch den materiellen Einfluß, welchen er mit
großer Umsicht auf diese Kreise auszuüben bemüht ist. Die pietistische
Partei gewinnt einen Theil des Volkes für sich, indem sie auf die
physischen Zustände desselben Rücksicht nimmt und eine materielle Hilfe
zum Mittel für ihre besondern entnervenden Zwecke wählt. Das Volk
muß sich ihr überliefern, weil es bei ihr noch eine Aussicht auf ma¬
terielle Hilfe hat. Es muß ihr seine Seele verkaufen, um den Kör¬
per zu retten. Oder es muß sie wenigstens, wie das häufig vorkommt,
gebrauchen und eine Frömmigkeit, zur Erreichung äußerer Zwecke, er¬
heucheln, die es keineswegs hat. Es schlägt dann den Pietismus mit
seinen eigenen Waffen und auf seinem eigenen Boden. Die Verirrun-
gen und die Parteiintriguen des Pietismus sind eine der düstersten
und der widerlichsten Seiten des Berliner Gesellschaftözuftaudes. Er
entnervt und vergiftet nach oben und nach unten und wenn er so ma߬
los fortfahren kann in seinen Bestrebungen, wie er sich seit einigen
Jahren bemüht hat, so ist alle Aussicht dafür vorhanden, daß die über¬
reizte Civilisation unserer Gegenwart sich eher in ein Tollhaus als in
die Freiheit einer harmonischen und vernünftigen Cultur verwandeln werde.
Allerdings stößt der Pietismus auf bedeutende Opposition, am wich¬
tigsten unter ihr ist die, welche sich praktisch bemühen will und welche
durch verschiedenartige Vorsorge für das materielle Wohl der arbei¬
tenden Klassen den pietistischer Vereinen, denen etwas Aehnliches nicht
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sage», welche sich in Berlin immer weiter auszubreiten sucht und de¬
ren Bemühungen äusserst gefährlich für den gesunden Zustand des
Volkes werden. Unsere Bourgeoisie in ihrer Nüchternheit ist im Durch¬
schnitt noch ziemlich unempfänglich für den Pietismus geblieben, sie
hält entweder an einer derben Orlhvdorie oder an einem bequemen
Rationalismus fest, aber in den höheren und in den tieferen Sphären
unserer Gesellschaft hat der Pietismus seine breiten Wurzeln geschla¬
gen. In den höheren Sphären wird er begünstigt durch die körper¬
liche und geistige Verweichlichung, welche in ihnen herrscht, durch die
Erschöpfltng aller Lebensgenusse, welche in ihnen eingetreten, durch eine
trostlose Verzweiflung an der menschlichen Vernunft, deren Größe
und Tiefe nirgends erkannt wurde, oder durch eine widerliche Heuche¬
lei, welche unter der Maske der Frömmigkeit ganz anderen als hinzu---
lischen Interessen nachstrebt. In den untern Kreisen unserer Gesell¬
schaft verschafft sich der Pietismus eine Stütze an der Selbstverzweif¬
lung, welche die Folge der Entsagung, der Unterthänigkeit, des Elendes
geworden und noch mehr durch den materiellen Einfluß, welchen er mit
großer Umsicht auf diese Kreise auszuüben bemüht ist. Die pietistische
Partei gewinnt einen Theil des Volkes für sich, indem sie auf die
physischen Zustände desselben Rücksicht nimmt und eine materielle Hilfe
zum Mittel für ihre besondern entnervenden Zwecke wählt. Das Volk
muß sich ihr überliefern, weil es bei ihr noch eine Aussicht auf ma¬
terielle Hilfe hat. Es muß ihr seine Seele verkaufen, um den Kör¬
per zu retten. Oder es muß sie wenigstens, wie das häufig vorkommt,
gebrauchen und eine Frömmigkeit, zur Erreichung äußerer Zwecke, er¬
heucheln, die es keineswegs hat. Es schlägt dann den Pietismus mit
seinen eigenen Waffen und auf seinem eigenen Boden. Die Verirrun-
gen und die Parteiintriguen des Pietismus sind eine der düstersten
und der widerlichsten Seiten des Berliner Gesellschaftözuftaudes. Er
entnervt und vergiftet nach oben und nach unten und wenn er so ma߬
los fortfahren kann in seinen Bestrebungen, wie er sich seit einigen
Jahren bemüht hat, so ist alle Aussicht dafür vorhanden, daß die über¬
reizte Civilisation unserer Gegenwart sich eher in ein Tollhaus als in
die Freiheit einer harmonischen und vernünftigen Cultur verwandeln werde.
Allerdings stößt der Pietismus auf bedeutende Opposition, am wich¬
tigsten unter ihr ist die, welche sich praktisch bemühen will und welche
durch verschiedenartige Vorsorge für das materielle Wohl der arbei¬
tenden Klassen den pietistischer Vereinen, denen etwas Aehnliches nicht
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[0297] sage», welche sich in Berlin immer weiter auszubreiten sucht und de¬ ren Bemühungen äusserst gefährlich für den gesunden Zustand des Volkes werden. Unsere Bourgeoisie in ihrer Nüchternheit ist im Durch¬ schnitt noch ziemlich unempfänglich für den Pietismus geblieben, sie hält entweder an einer derben Orlhvdorie oder an einem bequemen Rationalismus fest, aber in den höheren und in den tieferen Sphären unserer Gesellschaft hat der Pietismus seine breiten Wurzeln geschla¬ gen. In den höheren Sphären wird er begünstigt durch die körper¬ liche und geistige Verweichlichung, welche in ihnen herrscht, durch die Erschöpfltng aller Lebensgenusse, welche in ihnen eingetreten, durch eine trostlose Verzweiflung an der menschlichen Vernunft, deren Größe und Tiefe nirgends erkannt wurde, oder durch eine widerliche Heuche¬ lei, welche unter der Maske der Frömmigkeit ganz anderen als hinzu--- lischen Interessen nachstrebt. In den untern Kreisen unserer Gesell¬ schaft verschafft sich der Pietismus eine Stütze an der Selbstverzweif¬ lung, welche die Folge der Entsagung, der Unterthänigkeit, des Elendes geworden und noch mehr durch den materiellen Einfluß, welchen er mit großer Umsicht auf diese Kreise auszuüben bemüht ist. Die pietistische Partei gewinnt einen Theil des Volkes für sich, indem sie auf die physischen Zustände desselben Rücksicht nimmt und eine materielle Hilfe zum Mittel für ihre besondern entnervenden Zwecke wählt. Das Volk muß sich ihr überliefern, weil es bei ihr noch eine Aussicht auf ma¬ terielle Hilfe hat. Es muß ihr seine Seele verkaufen, um den Kör¬ per zu retten. Oder es muß sie wenigstens, wie das häufig vorkommt, gebrauchen und eine Frömmigkeit, zur Erreichung äußerer Zwecke, er¬ heucheln, die es keineswegs hat. Es schlägt dann den Pietismus mit seinen eigenen Waffen und auf seinem eigenen Boden. Die Verirrun- gen und die Parteiintriguen des Pietismus sind eine der düstersten und der widerlichsten Seiten des Berliner Gesellschaftözuftaudes. Er entnervt und vergiftet nach oben und nach unten und wenn er so ma߬ los fortfahren kann in seinen Bestrebungen, wie er sich seit einigen Jahren bemüht hat, so ist alle Aussicht dafür vorhanden, daß die über¬ reizte Civilisation unserer Gegenwart sich eher in ein Tollhaus als in die Freiheit einer harmonischen und vernünftigen Cultur verwandeln werde. Allerdings stößt der Pietismus auf bedeutende Opposition, am wich¬ tigsten unter ihr ist die, welche sich praktisch bemühen will und welche durch verschiedenartige Vorsorge für das materielle Wohl der arbei¬ tenden Klassen den pietistischer Vereinen, denen etwas Aehnliches nicht ' Grcnzbvte». IN. 184«!. 39 ,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/297>, abgerufen am 24.07.2024.