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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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konnte nirgends geholfen werden. Die neue englische ArMengesetzgebung
wurde der großartigste und schlagendste Beweis von dem Unzureichen¬
der und von der Verschieben dieses "praktischen" Standpunktes, wel¬
cher dessenungeachtet noch immer viele Bekenner unter uns findet und
namentlich da, wo man zu bequem ist, um der Natur des Menschen
und seinen Beziehungen zu den materiellen Gütern auf den Grund zu
gehen, als auch da, wo man fürchtet, durch ein allgemeines Eindrin¬
gen in die große Frage der Gegenwart den so lange behaupteten pri-
vilegirten Boden zu verlieren und Eonsequenzen anerkennen zu müssen,
welche der Egoismus fürchtet und welche er allerdings zu fürchten hat,
denn sie können zu nichts Andern,, als zur Auflösung jedes Privile¬
giums führen.

Unter Denen, welche die Dürftigkeit und UnHaltbarkeit dieses
"praktischen"Standpunktes, dieser gedankenlosen Bettelvogtsbehauptung
einsahen und sich genöthigt fanden, eine tiefere Grundursache aufzu¬
suchen, lassen sich aber wiederum strenge Verschiedenheiten nachweisen.
Die Einen nämlich betrachten die Armuth als ein nothwendiges Uebel,
die Andern dagegen sehen in ihr ein Uebel , welches von der Gesell¬
schaft verschuldet ist, welches bekämpft werden muß und beseitigt wer¬
den kann.

Die, welche die Armuth als ein nothwendiges Uebel betrachten,
Pflegen in der permanenten Uebervölkerung die Ursache der Armuth
anzugeben und diese finde "icht blos in den dichtbewohnten civilisirtcrl
Ländern, sondern ebenso gut in den sparsam bevölkerten Jagdgebieten
der Indianer Nordamerika's statt. Das sind die Malthusianer un¬
ter uns. Wissenschaftlich ist Malthus längst widerlegt worden. In
ihrer praktischen Bedeutung muß diese Ansicht zur Härte, ja zur Grau-
samkeit gegen die Armen führen, wie sie es denn auch in England
gethan, wo sie keinen geringen Einfluß auf die Reform der Armen¬
gesehe übte, wo sie den Haß der arbeitenden Klassen und den Vorwurf
einer barbarischen Gesinnung auf sich geladen hat. Bei dem philan¬
thropischen Charakter, der sich vielfach bei uns, wenn auch, häusig
nicht gesund und kräftig, sondern nur weichlich geltend macht, hat die¬
ses System nicht allzu viele Anhänger unter uus gefunden. Doch
betrachten sie den "Stand der Armen" als einen von der Vorsehung
angeordneten Grundstand, dessen krankhaftem Ueberwuchern nur durch
Beschränkung der persönlichen Freiheit der untern Klas¬
sen, namentlich auch durch strengere Zucht über die Almosenempfän¬
ger entgegen zu wirken sei. In dem preußischen Bettelgesetze macht


konnte nirgends geholfen werden. Die neue englische ArMengesetzgebung
wurde der großartigste und schlagendste Beweis von dem Unzureichen¬
der und von der Verschieben dieses „praktischen" Standpunktes, wel¬
cher dessenungeachtet noch immer viele Bekenner unter uns findet und
namentlich da, wo man zu bequem ist, um der Natur des Menschen
und seinen Beziehungen zu den materiellen Gütern auf den Grund zu
gehen, als auch da, wo man fürchtet, durch ein allgemeines Eindrin¬
gen in die große Frage der Gegenwart den so lange behaupteten pri-
vilegirten Boden zu verlieren und Eonsequenzen anerkennen zu müssen,
welche der Egoismus fürchtet und welche er allerdings zu fürchten hat,
denn sie können zu nichts Andern,, als zur Auflösung jedes Privile¬
giums führen.

Unter Denen, welche die Dürftigkeit und UnHaltbarkeit dieses
„praktischen"Standpunktes, dieser gedankenlosen Bettelvogtsbehauptung
einsahen und sich genöthigt fanden, eine tiefere Grundursache aufzu¬
suchen, lassen sich aber wiederum strenge Verschiedenheiten nachweisen.
Die Einen nämlich betrachten die Armuth als ein nothwendiges Uebel,
die Andern dagegen sehen in ihr ein Uebel , welches von der Gesell¬
schaft verschuldet ist, welches bekämpft werden muß und beseitigt wer¬
den kann.

Die, welche die Armuth als ein nothwendiges Uebel betrachten,
Pflegen in der permanenten Uebervölkerung die Ursache der Armuth
anzugeben und diese finde »icht blos in den dichtbewohnten civilisirtcrl
Ländern, sondern ebenso gut in den sparsam bevölkerten Jagdgebieten
der Indianer Nordamerika's statt. Das sind die Malthusianer un¬
ter uns. Wissenschaftlich ist Malthus längst widerlegt worden. In
ihrer praktischen Bedeutung muß diese Ansicht zur Härte, ja zur Grau-
samkeit gegen die Armen führen, wie sie es denn auch in England
gethan, wo sie keinen geringen Einfluß auf die Reform der Armen¬
gesehe übte, wo sie den Haß der arbeitenden Klassen und den Vorwurf
einer barbarischen Gesinnung auf sich geladen hat. Bei dem philan¬
thropischen Charakter, der sich vielfach bei uns, wenn auch, häusig
nicht gesund und kräftig, sondern nur weichlich geltend macht, hat die¬
ses System nicht allzu viele Anhänger unter uus gefunden. Doch
betrachten sie den „Stand der Armen" als einen von der Vorsehung
angeordneten Grundstand, dessen krankhaftem Ueberwuchern nur durch
Beschränkung der persönlichen Freiheit der untern Klas¬
sen, namentlich auch durch strengere Zucht über die Almosenempfän¬
ger entgegen zu wirken sei. In dem preußischen Bettelgesetze macht


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[0287] konnte nirgends geholfen werden. Die neue englische ArMengesetzgebung wurde der großartigste und schlagendste Beweis von dem Unzureichen¬ der und von der Verschieben dieses „praktischen" Standpunktes, wel¬ cher dessenungeachtet noch immer viele Bekenner unter uns findet und namentlich da, wo man zu bequem ist, um der Natur des Menschen und seinen Beziehungen zu den materiellen Gütern auf den Grund zu gehen, als auch da, wo man fürchtet, durch ein allgemeines Eindrin¬ gen in die große Frage der Gegenwart den so lange behaupteten pri- vilegirten Boden zu verlieren und Eonsequenzen anerkennen zu müssen, welche der Egoismus fürchtet und welche er allerdings zu fürchten hat, denn sie können zu nichts Andern,, als zur Auflösung jedes Privile¬ giums führen. Unter Denen, welche die Dürftigkeit und UnHaltbarkeit dieses „praktischen"Standpunktes, dieser gedankenlosen Bettelvogtsbehauptung einsahen und sich genöthigt fanden, eine tiefere Grundursache aufzu¬ suchen, lassen sich aber wiederum strenge Verschiedenheiten nachweisen. Die Einen nämlich betrachten die Armuth als ein nothwendiges Uebel, die Andern dagegen sehen in ihr ein Uebel , welches von der Gesell¬ schaft verschuldet ist, welches bekämpft werden muß und beseitigt wer¬ den kann. Die, welche die Armuth als ein nothwendiges Uebel betrachten, Pflegen in der permanenten Uebervölkerung die Ursache der Armuth anzugeben und diese finde »icht blos in den dichtbewohnten civilisirtcrl Ländern, sondern ebenso gut in den sparsam bevölkerten Jagdgebieten der Indianer Nordamerika's statt. Das sind die Malthusianer un¬ ter uns. Wissenschaftlich ist Malthus längst widerlegt worden. In ihrer praktischen Bedeutung muß diese Ansicht zur Härte, ja zur Grau- samkeit gegen die Armen führen, wie sie es denn auch in England gethan, wo sie keinen geringen Einfluß auf die Reform der Armen¬ gesehe übte, wo sie den Haß der arbeitenden Klassen und den Vorwurf einer barbarischen Gesinnung auf sich geladen hat. Bei dem philan¬ thropischen Charakter, der sich vielfach bei uns, wenn auch, häusig nicht gesund und kräftig, sondern nur weichlich geltend macht, hat die¬ ses System nicht allzu viele Anhänger unter uus gefunden. Doch betrachten sie den „Stand der Armen" als einen von der Vorsehung angeordneten Grundstand, dessen krankhaftem Ueberwuchern nur durch Beschränkung der persönlichen Freiheit der untern Klas¬ sen, namentlich auch durch strengere Zucht über die Almosenempfän¬ ger entgegen zu wirken sei. In dem preußischen Bettelgesetze macht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/287>, abgerufen am 24.07.2024.