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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Mit dem Bau der neuen Nikolai-Kirche, nach dem Plane des Lon¬
doner Architekten Gilbert Scott ist lange innegehalten worden; jetzt wird
aber wieder fortgefahren, nachdem der Streit, in welchen die Bau-Co-
nn<- mit ihrem Architekten gerathen war, ausgeglichen ist. Dieser
hatte nämlich nur eine Schiffkirche entworfen, jene wollte hinterher
aber durchaus eine Kreuzkirche. Natürlich konnte Scott aus pecuniä-
ren und artistischen Gründen solchem Willen nicht nachkommen. Jetzt
aber wird es doch eine Kreuzkirche und die verehrliche Baudeputation
zeigt an -- man staune über ihre Behandlung und Achtung der öffent¬
lichen Meinung -- "daß sie sich freue, daß es bei dem ursprünglichen
(!) Plane verbleibe."


IV.
Notizen.

Die gefräßige Reisetasche. -- Acht Reisebriefc. -- Kaiser Joseph. -- Heinrich
Heine und die drei Allgemeinen. --

Jetzt, wo die Schnelligkeit der Eisenbahnfahrten den Reisenden nicht
Zeit lassen, in den Gasthöfen der kleinen Awischenstädte sich lange auf--
zuhalten, suchen sich die Wirthe durch besondere Kunstgriffe für die Hast
zu entschädigen, mit welcher man an ihnen vorübereilt und Ausländer,
die mit der Sprache und der Sitte des Landes weniger vertraut sind,
werden dabei die leichtesten Opfer. Unlängst kam ein deutscher Reisender,
der über Belgien nach Paris ging, in Valenciennes an, wo wegen der
Grenzformalitäten eine Stunde verweilt und gleichzeitig zu Nacht gespeist
wird. Nach deutscher Vorsichtssitte stellte unser Reisender seinen Nacht¬
sack neben sich auf den Stuhl, während er sich zu Tische setzte. Als
er abgespeist hatte, wunderte er sich nicht wenig, daß man ihm ein Sou¬
per für zwei Personen berechnete. Vergebens reclamirte er, der Kellner
behauptete, die Reisetasche, habe den Platz einer Person eingenommen,
und es sei dem Wirth dadurch Schaden entstanden, der vergütet werden
müßte. Mittlerweile klingelte man zum letzten Male und der Reisende
mußte, um nicht seinen Platz auf der Eisenbahn zu verlieren, das Ver¬
langte rasch bezahlen, ein Umstand, auf den man auch im Voraus ge¬
rechnet zu haben schien. Vierzehn Tage später reiste unser Landsmann
wieder zurück. Abermals wurde in Valenciennes Halt gemacht, abermals
setzte man sich zu Tische und abermals stellte unser Reisende seinen Nacht¬
sack neben sich auf den Stuhl. Allein dieses Mal öffnete er bei jeder
Schüssel, die servirt wurde, seinen unzertrennlichen Begleiter und steckte
bald ein Stück Rostbeaf, bald ein halbes Huhn, bald ein Stück Schin¬
ken hinein. Keine Speise geht vorüber, von der nicht die gefräßige
Reisetasche ihren Antheil erhält. Endlich wurde die Sache zu arg und
der Wirth kam auf die Anzeige der Kellner selbst herbei und stellte den


Mit dem Bau der neuen Nikolai-Kirche, nach dem Plane des Lon¬
doner Architekten Gilbert Scott ist lange innegehalten worden; jetzt wird
aber wieder fortgefahren, nachdem der Streit, in welchen die Bau-Co-
nn<- mit ihrem Architekten gerathen war, ausgeglichen ist. Dieser
hatte nämlich nur eine Schiffkirche entworfen, jene wollte hinterher
aber durchaus eine Kreuzkirche. Natürlich konnte Scott aus pecuniä-
ren und artistischen Gründen solchem Willen nicht nachkommen. Jetzt
aber wird es doch eine Kreuzkirche und die verehrliche Baudeputation
zeigt an — man staune über ihre Behandlung und Achtung der öffent¬
lichen Meinung — „daß sie sich freue, daß es bei dem ursprünglichen
(!) Plane verbleibe."


IV.
Notizen.

Die gefräßige Reisetasche. — Acht Reisebriefc. — Kaiser Joseph. — Heinrich
Heine und die drei Allgemeinen. —

Jetzt, wo die Schnelligkeit der Eisenbahnfahrten den Reisenden nicht
Zeit lassen, in den Gasthöfen der kleinen Awischenstädte sich lange auf--
zuhalten, suchen sich die Wirthe durch besondere Kunstgriffe für die Hast
zu entschädigen, mit welcher man an ihnen vorübereilt und Ausländer,
die mit der Sprache und der Sitte des Landes weniger vertraut sind,
werden dabei die leichtesten Opfer. Unlängst kam ein deutscher Reisender,
der über Belgien nach Paris ging, in Valenciennes an, wo wegen der
Grenzformalitäten eine Stunde verweilt und gleichzeitig zu Nacht gespeist
wird. Nach deutscher Vorsichtssitte stellte unser Reisender seinen Nacht¬
sack neben sich auf den Stuhl, während er sich zu Tische setzte. Als
er abgespeist hatte, wunderte er sich nicht wenig, daß man ihm ein Sou¬
per für zwei Personen berechnete. Vergebens reclamirte er, der Kellner
behauptete, die Reisetasche, habe den Platz einer Person eingenommen,
und es sei dem Wirth dadurch Schaden entstanden, der vergütet werden
müßte. Mittlerweile klingelte man zum letzten Male und der Reisende
mußte, um nicht seinen Platz auf der Eisenbahn zu verlieren, das Ver¬
langte rasch bezahlen, ein Umstand, auf den man auch im Voraus ge¬
rechnet zu haben schien. Vierzehn Tage später reiste unser Landsmann
wieder zurück. Abermals wurde in Valenciennes Halt gemacht, abermals
setzte man sich zu Tische und abermals stellte unser Reisende seinen Nacht¬
sack neben sich auf den Stuhl. Allein dieses Mal öffnete er bei jeder
Schüssel, die servirt wurde, seinen unzertrennlichen Begleiter und steckte
bald ein Stück Rostbeaf, bald ein halbes Huhn, bald ein Stück Schin¬
ken hinein. Keine Speise geht vorüber, von der nicht die gefräßige
Reisetasche ihren Antheil erhält. Endlich wurde die Sache zu arg und
der Wirth kam auf die Anzeige der Kellner selbst herbei und stellte den


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[0278] Mit dem Bau der neuen Nikolai-Kirche, nach dem Plane des Lon¬ doner Architekten Gilbert Scott ist lange innegehalten worden; jetzt wird aber wieder fortgefahren, nachdem der Streit, in welchen die Bau-Co- nn<- mit ihrem Architekten gerathen war, ausgeglichen ist. Dieser hatte nämlich nur eine Schiffkirche entworfen, jene wollte hinterher aber durchaus eine Kreuzkirche. Natürlich konnte Scott aus pecuniä- ren und artistischen Gründen solchem Willen nicht nachkommen. Jetzt aber wird es doch eine Kreuzkirche und die verehrliche Baudeputation zeigt an — man staune über ihre Behandlung und Achtung der öffent¬ lichen Meinung — „daß sie sich freue, daß es bei dem ursprünglichen (!) Plane verbleibe." IV. Notizen. Die gefräßige Reisetasche. — Acht Reisebriefc. — Kaiser Joseph. — Heinrich Heine und die drei Allgemeinen. — Jetzt, wo die Schnelligkeit der Eisenbahnfahrten den Reisenden nicht Zeit lassen, in den Gasthöfen der kleinen Awischenstädte sich lange auf-- zuhalten, suchen sich die Wirthe durch besondere Kunstgriffe für die Hast zu entschädigen, mit welcher man an ihnen vorübereilt und Ausländer, die mit der Sprache und der Sitte des Landes weniger vertraut sind, werden dabei die leichtesten Opfer. Unlängst kam ein deutscher Reisender, der über Belgien nach Paris ging, in Valenciennes an, wo wegen der Grenzformalitäten eine Stunde verweilt und gleichzeitig zu Nacht gespeist wird. Nach deutscher Vorsichtssitte stellte unser Reisender seinen Nacht¬ sack neben sich auf den Stuhl, während er sich zu Tische setzte. Als er abgespeist hatte, wunderte er sich nicht wenig, daß man ihm ein Sou¬ per für zwei Personen berechnete. Vergebens reclamirte er, der Kellner behauptete, die Reisetasche, habe den Platz einer Person eingenommen, und es sei dem Wirth dadurch Schaden entstanden, der vergütet werden müßte. Mittlerweile klingelte man zum letzten Male und der Reisende mußte, um nicht seinen Platz auf der Eisenbahn zu verlieren, das Ver¬ langte rasch bezahlen, ein Umstand, auf den man auch im Voraus ge¬ rechnet zu haben schien. Vierzehn Tage später reiste unser Landsmann wieder zurück. Abermals wurde in Valenciennes Halt gemacht, abermals setzte man sich zu Tische und abermals stellte unser Reisende seinen Nacht¬ sack neben sich auf den Stuhl. Allein dieses Mal öffnete er bei jeder Schüssel, die servirt wurde, seinen unzertrennlichen Begleiter und steckte bald ein Stück Rostbeaf, bald ein halbes Huhn, bald ein Stück Schin¬ ken hinein. Keine Speise geht vorüber, von der nicht die gefräßige Reisetasche ihren Antheil erhält. Endlich wurde die Sache zu arg und der Wirth kam auf die Anzeige der Kellner selbst herbei und stellte den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/278>, abgerufen am 24.07.2024.