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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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den Nationaltugenden als unbequem und gefährlich zu betrachten, weil
sie oft gemißbraucht worden sind: man verspottet sie, man verleugnet
den Nationalcharakter. Die Furcht, übertölpelt zu werden, ist das
Gift, daS die Geister verdirbt. Diese Furcht ist bei einem so oft ge¬
täuschten Volke wohl zu begreifen. Gleichwohl ist sie ein trauriges
Symptom, ein Zeichen von Schwäche. Wäre es nicht schöner, die
Traditionen der Vorfahren treu zu bewahren und dennoch mit Ruhe
und Festigkeit die neuen Ziele zu verfolgen? Ende wahre Reife für
die Zukunft, der sie entgegengeht, einen starken Geist, der vollkommen
seiner selbst Herr ist, würde die Nation bekunden, wenn sie den mu¬
thigen Fortschritt mit der Tradition zu vereinigen, wenn sie sich um¬
zuwandeln verstände, ohne darum ihre ursprüngliche Natur aufzu-
geben.

Ein anderes Uebel, woran die deutsche Literatur der Gegenwart
darniederliegt, ist die Unthätigkeit der Kritik. Diejenigen, welche frü¬
her das Scepter derselt'en führten, haben ihren Posten verlassen. Die
politischen Interessen nehmen ihre Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch.
Dabei trösten sie sich über den Verfall der Literatur damit, daß die
Zeit der starken und eigenthümlichen Naturen vorüber sei, daß es setzt
auf die Bildung und Erziehung der Massen ankomme, und daß nach
Ablauf dieser Periode des Uebergangs, in einem, vielleicht in zwei
Jahrhunderten, die Meister der Zukunft, die wahren Nachfolger Goe¬
the'S und Jean Paul's , Herder's und Schiller's, erscheinen werden.
Diese sonderbare Resignation ist besonders bei einem der einsichtsvolle-
sten Kritiker, dem Geschichtschreiber der deutschen Literatur, Herrn Ger-
vinus, zum Grundsatz geworden. Am Schluß seiner Literaturgeschichte,
die er bis zu dein Schluß der goethe'schen-Periode und der romanti¬
schen Bewegung, d. h. bis zur Schwelle der gegenwärtigen Epoche
fortgeführt, entwickelt er seine Ansicht über die nächste Zukunft der Li¬
teratur, und hier räth er seinen Zeitgenossen nichts Geringeres, als
die Beschäftigung mit Poesie und Literatur vorläufig ganz aufzuge¬
ben. Es müsse erst ein neuer Boden für eine neue Poesie gewonnen
werden, und dieser neue Boden sei der Staat und die Gesellschaft der
Zukunft. Man kennt die liberalen Hoffnungen, von denen Gervinus
bet diesen Ansichten ausgeht; aber ist dies eine genügende Entschul¬
digung? Welche Herabwürdigung liegt in diesen seltsamen Rath¬
schlägen, welche Muthlosigkeit verbindet sich hier mit diesem stolzen
Gefühl des politischen Berufs unserer Zeit! Wahr ist eS, daß die
ruhigen, normalen Epochen, die von einem blos geistigen Leben be--


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den Nationaltugenden als unbequem und gefährlich zu betrachten, weil
sie oft gemißbraucht worden sind: man verspottet sie, man verleugnet
den Nationalcharakter. Die Furcht, übertölpelt zu werden, ist das
Gift, daS die Geister verdirbt. Diese Furcht ist bei einem so oft ge¬
täuschten Volke wohl zu begreifen. Gleichwohl ist sie ein trauriges
Symptom, ein Zeichen von Schwäche. Wäre es nicht schöner, die
Traditionen der Vorfahren treu zu bewahren und dennoch mit Ruhe
und Festigkeit die neuen Ziele zu verfolgen? Ende wahre Reife für
die Zukunft, der sie entgegengeht, einen starken Geist, der vollkommen
seiner selbst Herr ist, würde die Nation bekunden, wenn sie den mu¬
thigen Fortschritt mit der Tradition zu vereinigen, wenn sie sich um¬
zuwandeln verstände, ohne darum ihre ursprüngliche Natur aufzu-
geben.

Ein anderes Uebel, woran die deutsche Literatur der Gegenwart
darniederliegt, ist die Unthätigkeit der Kritik. Diejenigen, welche frü¬
her das Scepter derselt'en führten, haben ihren Posten verlassen. Die
politischen Interessen nehmen ihre Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch.
Dabei trösten sie sich über den Verfall der Literatur damit, daß die
Zeit der starken und eigenthümlichen Naturen vorüber sei, daß es setzt
auf die Bildung und Erziehung der Massen ankomme, und daß nach
Ablauf dieser Periode des Uebergangs, in einem, vielleicht in zwei
Jahrhunderten, die Meister der Zukunft, die wahren Nachfolger Goe¬
the'S und Jean Paul's , Herder's und Schiller's, erscheinen werden.
Diese sonderbare Resignation ist besonders bei einem der einsichtsvolle-
sten Kritiker, dem Geschichtschreiber der deutschen Literatur, Herrn Ger-
vinus, zum Grundsatz geworden. Am Schluß seiner Literaturgeschichte,
die er bis zu dein Schluß der goethe'schen-Periode und der romanti¬
schen Bewegung, d. h. bis zur Schwelle der gegenwärtigen Epoche
fortgeführt, entwickelt er seine Ansicht über die nächste Zukunft der Li¬
teratur, und hier räth er seinen Zeitgenossen nichts Geringeres, als
die Beschäftigung mit Poesie und Literatur vorläufig ganz aufzuge¬
ben. Es müsse erst ein neuer Boden für eine neue Poesie gewonnen
werden, und dieser neue Boden sei der Staat und die Gesellschaft der
Zukunft. Man kennt die liberalen Hoffnungen, von denen Gervinus
bet diesen Ansichten ausgeht; aber ist dies eine genügende Entschul¬
digung? Welche Herabwürdigung liegt in diesen seltsamen Rath¬
schlägen, welche Muthlosigkeit verbindet sich hier mit diesem stolzen
Gefühl des politischen Berufs unserer Zeit! Wahr ist eS, daß die
ruhigen, normalen Epochen, die von einem blos geistigen Leben be--


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/27>, abgerufen am 24.07.2024.