Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hingeworfenen Alheiftenknochen" nagen, bekommen in solchen Augen¬
blicken von ihm nicht immer treffende Hiebe.

Doch enthält anch die Abtheilung: "Natur" in ihrer Art Vor¬
treffliches. So die Gedichte: "Es ist ein stiller Regentag" . . . .
"Berg hinan vom kühlen Grund" .... "Im Herbst wenn sich der
Wald entlaubt" .... "Es deckt der reiche Buchenschlag" .... "Im
Wald" .... "Aber auch der Föhrenwald." Das Alles ist, als
legte man sich der Länge nach in ein Kleefeld und der Wind wehte
Einem die blühenden Halme einen nach dem andern über den Kops
weg. Wie erfrischt sich das Herz in dieser Welt des Dichters, wie
erfrischt sich namentlich die Phantasie eines Lesers, der in den Kerker-
mauern einer großen Stadt eingesperrt, die Sehnsucht nach jener grü¬
nen Welt doppelt empfindet.

Ich las heute "Gedichte von Günther Nico l. Dieser Poet hat
bei einem nicht allzu reichen Talente dnrch künstlerische Besonnenheit
viel Erfreuliches geleistet. Seine Gedichte sind nicht dnrch einen ge¬
nialen Wurf entstanden: man sieht Arbeit an ihnen, aber diese Ar¬
beit ist keine Dilettanten-Arbeit. In der Detaillirung, in der völlig
gleichmässigen Behandlung des Stoffes ruht sein Werth. Eine Ge¬
schmacklosigkeit, eine Trivialität kann ihm kaum unterlaufen. In die¬
ser Gleichmäßigkeit, mit der der Verfasser Alles nach allen Seiten hin
detaillirt, liegt es denn auch, daß die Gedichte unter einander an Werth
nnr sehr wenig verschieden sind. Günther Nicol hat mich zuweilen
an Chamisso erinnert, nicht als ob er ihn in seinen Leistungen nach¬
ahmte, sondern durch die Art und Weise wie er producirt. Ein Ge¬
danke, den beide in ihren Gedichten nicht sorgfältig aus der spröden
Form herausarbeiten, geht bei ihnen der Welt verloren: da wird nichts
angedeutet, und uns etwa schon durch den Rhythmus in diese oder
jene Stimmung zu versetzen, wird nicht versucht. Am liebsten gebraucht
Nicol ein jambisches Versmaß, in den, sich höchstens (S. 20b) das
Knarren des regelmäßigen Schrittes im Schnee nachahmen läßt.

Den Anfang der Gedichte von Günther Nicol machen Polenlieder;
obgleich manche von ihnen erst 1836 und 1838 geschrieben wurden,
so erkennt man doch darin die alte ächte Polenbegeisterung vom Jahre
1830, wo Nicolaus Lenau auch gesund war und mit schwermüthigen,
tiefsinnigen Liedern gegen die Russen kämpfte. Der Leipziger Prtvat-
doeent, Herr Wuttke, mag sür sich recht haben, wenn er es den Har-
fenmädchen auf der Messe nicht glauben will, daß Polen noch immer


hingeworfenen Alheiftenknochen" nagen, bekommen in solchen Augen¬
blicken von ihm nicht immer treffende Hiebe.

Doch enthält anch die Abtheilung: „Natur" in ihrer Art Vor¬
treffliches. So die Gedichte: „Es ist ein stiller Regentag" . . . .
„Berg hinan vom kühlen Grund" .... „Im Herbst wenn sich der
Wald entlaubt" .... „Es deckt der reiche Buchenschlag" .... „Im
Wald" .... „Aber auch der Föhrenwald." Das Alles ist, als
legte man sich der Länge nach in ein Kleefeld und der Wind wehte
Einem die blühenden Halme einen nach dem andern über den Kops
weg. Wie erfrischt sich das Herz in dieser Welt des Dichters, wie
erfrischt sich namentlich die Phantasie eines Lesers, der in den Kerker-
mauern einer großen Stadt eingesperrt, die Sehnsucht nach jener grü¬
nen Welt doppelt empfindet.

Ich las heute „Gedichte von Günther Nico l. Dieser Poet hat
bei einem nicht allzu reichen Talente dnrch künstlerische Besonnenheit
viel Erfreuliches geleistet. Seine Gedichte sind nicht dnrch einen ge¬
nialen Wurf entstanden: man sieht Arbeit an ihnen, aber diese Ar¬
beit ist keine Dilettanten-Arbeit. In der Detaillirung, in der völlig
gleichmässigen Behandlung des Stoffes ruht sein Werth. Eine Ge¬
schmacklosigkeit, eine Trivialität kann ihm kaum unterlaufen. In die¬
ser Gleichmäßigkeit, mit der der Verfasser Alles nach allen Seiten hin
detaillirt, liegt es denn auch, daß die Gedichte unter einander an Werth
nnr sehr wenig verschieden sind. Günther Nicol hat mich zuweilen
an Chamisso erinnert, nicht als ob er ihn in seinen Leistungen nach¬
ahmte, sondern durch die Art und Weise wie er producirt. Ein Ge¬
danke, den beide in ihren Gedichten nicht sorgfältig aus der spröden
Form herausarbeiten, geht bei ihnen der Welt verloren: da wird nichts
angedeutet, und uns etwa schon durch den Rhythmus in diese oder
jene Stimmung zu versetzen, wird nicht versucht. Am liebsten gebraucht
Nicol ein jambisches Versmaß, in den, sich höchstens (S. 20b) das
Knarren des regelmäßigen Schrittes im Schnee nachahmen läßt.

Den Anfang der Gedichte von Günther Nicol machen Polenlieder;
obgleich manche von ihnen erst 1836 und 1838 geschrieben wurden,
so erkennt man doch darin die alte ächte Polenbegeisterung vom Jahre
1830, wo Nicolaus Lenau auch gesund war und mit schwermüthigen,
tiefsinnigen Liedern gegen die Russen kämpfte. Der Leipziger Prtvat-
doeent, Herr Wuttke, mag sür sich recht haben, wenn er es den Har-
fenmädchen auf der Messe nicht glauben will, daß Polen noch immer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0243" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183264"/>
          <p xml:id="ID_647" prev="#ID_646"> hingeworfenen Alheiftenknochen" nagen, bekommen in solchen Augen¬<lb/>
blicken von ihm nicht immer treffende Hiebe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_648"> Doch enthält anch die Abtheilung: &#x201E;Natur" in ihrer Art Vor¬<lb/>
treffliches. So die Gedichte: &#x201E;Es ist ein stiller Regentag" . . . .<lb/>
&#x201E;Berg hinan vom kühlen Grund" .... &#x201E;Im Herbst wenn sich der<lb/>
Wald entlaubt" .... &#x201E;Es deckt der reiche Buchenschlag" .... &#x201E;Im<lb/>
Wald" .... &#x201E;Aber auch der Föhrenwald." Das Alles ist, als<lb/>
legte man sich der Länge nach in ein Kleefeld und der Wind wehte<lb/>
Einem die blühenden Halme einen nach dem andern über den Kops<lb/>
weg. Wie erfrischt sich das Herz in dieser Welt des Dichters, wie<lb/>
erfrischt sich namentlich die Phantasie eines Lesers, der in den Kerker-<lb/>
mauern einer großen Stadt eingesperrt, die Sehnsucht nach jener grü¬<lb/>
nen Welt doppelt empfindet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_649"> Ich las heute &#x201E;Gedichte von Günther Nico l. Dieser Poet hat<lb/>
bei einem nicht allzu reichen Talente dnrch künstlerische Besonnenheit<lb/>
viel Erfreuliches geleistet. Seine Gedichte sind nicht dnrch einen ge¬<lb/>
nialen Wurf entstanden: man sieht Arbeit an ihnen, aber diese Ar¬<lb/>
beit ist keine Dilettanten-Arbeit. In der Detaillirung, in der völlig<lb/>
gleichmässigen Behandlung des Stoffes ruht sein Werth. Eine Ge¬<lb/>
schmacklosigkeit, eine Trivialität kann ihm kaum unterlaufen. In die¬<lb/>
ser Gleichmäßigkeit, mit der der Verfasser Alles nach allen Seiten hin<lb/>
detaillirt, liegt es denn auch, daß die Gedichte unter einander an Werth<lb/>
nnr sehr wenig verschieden sind. Günther Nicol hat mich zuweilen<lb/>
an Chamisso erinnert, nicht als ob er ihn in seinen Leistungen nach¬<lb/>
ahmte, sondern durch die Art und Weise wie er producirt. Ein Ge¬<lb/>
danke, den beide in ihren Gedichten nicht sorgfältig aus der spröden<lb/>
Form herausarbeiten, geht bei ihnen der Welt verloren: da wird nichts<lb/>
angedeutet, und uns etwa schon durch den Rhythmus in diese oder<lb/>
jene Stimmung zu versetzen, wird nicht versucht. Am liebsten gebraucht<lb/>
Nicol ein jambisches Versmaß, in den, sich höchstens (S. 20b) das<lb/>
Knarren des regelmäßigen Schrittes im Schnee nachahmen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_650" next="#ID_651"> Den Anfang der Gedichte von Günther Nicol machen Polenlieder;<lb/>
obgleich manche von ihnen erst 1836 und 1838 geschrieben wurden,<lb/>
so erkennt man doch darin die alte ächte Polenbegeisterung vom Jahre<lb/>
1830, wo Nicolaus Lenau auch gesund war und mit schwermüthigen,<lb/>
tiefsinnigen Liedern gegen die Russen kämpfte. Der Leipziger Prtvat-<lb/>
doeent, Herr Wuttke, mag sür sich recht haben, wenn er es den Har-<lb/>
fenmädchen auf der Messe nicht glauben will, daß Polen noch immer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0243] hingeworfenen Alheiftenknochen" nagen, bekommen in solchen Augen¬ blicken von ihm nicht immer treffende Hiebe. Doch enthält anch die Abtheilung: „Natur" in ihrer Art Vor¬ treffliches. So die Gedichte: „Es ist ein stiller Regentag" . . . . „Berg hinan vom kühlen Grund" .... „Im Herbst wenn sich der Wald entlaubt" .... „Es deckt der reiche Buchenschlag" .... „Im Wald" .... „Aber auch der Föhrenwald." Das Alles ist, als legte man sich der Länge nach in ein Kleefeld und der Wind wehte Einem die blühenden Halme einen nach dem andern über den Kops weg. Wie erfrischt sich das Herz in dieser Welt des Dichters, wie erfrischt sich namentlich die Phantasie eines Lesers, der in den Kerker- mauern einer großen Stadt eingesperrt, die Sehnsucht nach jener grü¬ nen Welt doppelt empfindet. Ich las heute „Gedichte von Günther Nico l. Dieser Poet hat bei einem nicht allzu reichen Talente dnrch künstlerische Besonnenheit viel Erfreuliches geleistet. Seine Gedichte sind nicht dnrch einen ge¬ nialen Wurf entstanden: man sieht Arbeit an ihnen, aber diese Ar¬ beit ist keine Dilettanten-Arbeit. In der Detaillirung, in der völlig gleichmässigen Behandlung des Stoffes ruht sein Werth. Eine Ge¬ schmacklosigkeit, eine Trivialität kann ihm kaum unterlaufen. In die¬ ser Gleichmäßigkeit, mit der der Verfasser Alles nach allen Seiten hin detaillirt, liegt es denn auch, daß die Gedichte unter einander an Werth nnr sehr wenig verschieden sind. Günther Nicol hat mich zuweilen an Chamisso erinnert, nicht als ob er ihn in seinen Leistungen nach¬ ahmte, sondern durch die Art und Weise wie er producirt. Ein Ge¬ danke, den beide in ihren Gedichten nicht sorgfältig aus der spröden Form herausarbeiten, geht bei ihnen der Welt verloren: da wird nichts angedeutet, und uns etwa schon durch den Rhythmus in diese oder jene Stimmung zu versetzen, wird nicht versucht. Am liebsten gebraucht Nicol ein jambisches Versmaß, in den, sich höchstens (S. 20b) das Knarren des regelmäßigen Schrittes im Schnee nachahmen läßt. Den Anfang der Gedichte von Günther Nicol machen Polenlieder; obgleich manche von ihnen erst 1836 und 1838 geschrieben wurden, so erkennt man doch darin die alte ächte Polenbegeisterung vom Jahre 1830, wo Nicolaus Lenau auch gesund war und mit schwermüthigen, tiefsinnigen Liedern gegen die Russen kämpfte. Der Leipziger Prtvat- doeent, Herr Wuttke, mag sür sich recht haben, wenn er es den Har- fenmädchen auf der Messe nicht glauben will, daß Polen noch immer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/243
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/243>, abgerufen am 24.07.2024.