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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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streitig machte und das Publicum, das mit Vorurtheilen gegen den Gast
in's Theater gegangen war, ließ diese mit jeder Scene mehr schwinden
und verwandelte endlich seine Kalte in Enthusiasmus. Wir legen auf
diese Rolle absichtlich so viel Gewicht, weil Madame Rettich hier die
meisten Vorurtheile zu überwinden hatte. In ihren spätern Rollen, wo
sie auf einem andern Gebiete sich bewegte, finden wir die ihr geworden?
Anerkennung viel einfacher.

Acht Gastrollen hat Madame Rettich gegeben und doch war ihr
Repertoire sehr beschränkt, d. h. nicht ihr Repertoire, sondern das ihr
von der Intendanz gestattete. Griseldis, Pacthenia, die unumgänglichen,
Jsabella in der Braut von Messina, Eboli, Iphigenia, Leonore (in dem
abgestandenen raupach'schen "Tasso'ö Tod") und zwei Mal die Jung¬
frau von Orleans; kein Stück von Shakespeare, kein Stück von einem
jüngern Dramatiker. Die Desdemona wollte sie spielen, aber der In¬
tendant fürchtete, es gäbe ein "schlechtes Haus". Christine in Laube's
Monaldeschi wurde gleichfalls abgeschlagen. Es ist dies ein Charakter-
zug für die leitende Idee der Intendanz. Eine der ersten Schauspiele¬
rinnen Deutschlands (und vielleicht die erste) kommt nach Berlin und der
Theatervorstand berechnet dabei blos die Cassa, nicht die Kunst, nicht die
Vorführung und Betrachtung eines großen Talentes wird berücksichtigt,
sondern das Plus und Minus der Einnahme. Die Jungfrau von Or¬
leans tragt 2 Schock Thaler mehr ein -- so geben wir sie zwei Mal
und " Shakespeare! Dies nennt man eine Hostheaterlcitung in der
Stadt der Intelligenz! - Sprechen wir nun ein Wort über den Gehalt
des Gastes, so sind es drei Eigenschaften, die ihre hohe künstlerische Be¬
deutung bilden: Das vollständigste Durchdringen des geistigen Inhaltes
der Dichtung, der sittliche Ernst und der tiefe Adel der Darstellung und
endlich ein wunderbarer Zauber der Weiblichkeit, der über alle ihre Cha¬
rakteristiken ausgebreitet ist. Die Schattenseite der Künstlerin dagegen
ist der allzugroße Werth, den sie auf die Declamation legt und ihre fast
dem Gesänge sich nähernde Art des Vortrags, die auf- und niederstei¬
gende, durch alle Töne der Scala sich bewegende Recitation. Hier aller¬
dings müssen wir die Schuld auf die wiener Mode, oder richtiger auf
die wiener Zustände schieben. Abgesehen, daß man im deutschen Süden
überhaupt mehr Werth auf den lyrischen Pathos legt, ist die weichliche
Schule der wiener dramatischen Poeten noch insbesondere auf den Glanz
der "schönen Sprache" angewiesen. In dem engen Raum des politisch
Erlaubten, der den wiener Dramatikern zugeschnitten ist, müssen sie, statt
große, freie Charaktere zu schaffen und in kühnen, nach Staat und Reli¬
gion hingewendeten Gedanken sich zu ergehen, in das stille Haus der
Gefühlspoesie sich flüchten, den Dialog in lyrische Aphorismen auflösen
und überhaupt in allen dramatischen Conceptionen mehr die weibliche
Seite pflegen als die productive männliche. So liegt die Schönrednerei
nahe genug, um bei der ersten Gelegenheit den Schauspieler in Manie-
rirtheit zu stürzen. Diese Gefahr wird um so größer und das Hinein¬
stürzen um so unvermeidlicher, wo der Kritik die Flügel beschnitten sind
und die Beurtheilung eines Schauspielers die Approbation der Polizei


streitig machte und das Publicum, das mit Vorurtheilen gegen den Gast
in's Theater gegangen war, ließ diese mit jeder Scene mehr schwinden
und verwandelte endlich seine Kalte in Enthusiasmus. Wir legen auf
diese Rolle absichtlich so viel Gewicht, weil Madame Rettich hier die
meisten Vorurtheile zu überwinden hatte. In ihren spätern Rollen, wo
sie auf einem andern Gebiete sich bewegte, finden wir die ihr geworden?
Anerkennung viel einfacher.

Acht Gastrollen hat Madame Rettich gegeben und doch war ihr
Repertoire sehr beschränkt, d. h. nicht ihr Repertoire, sondern das ihr
von der Intendanz gestattete. Griseldis, Pacthenia, die unumgänglichen,
Jsabella in der Braut von Messina, Eboli, Iphigenia, Leonore (in dem
abgestandenen raupach'schen „Tasso'ö Tod") und zwei Mal die Jung¬
frau von Orleans; kein Stück von Shakespeare, kein Stück von einem
jüngern Dramatiker. Die Desdemona wollte sie spielen, aber der In¬
tendant fürchtete, es gäbe ein „schlechtes Haus". Christine in Laube's
Monaldeschi wurde gleichfalls abgeschlagen. Es ist dies ein Charakter-
zug für die leitende Idee der Intendanz. Eine der ersten Schauspiele¬
rinnen Deutschlands (und vielleicht die erste) kommt nach Berlin und der
Theatervorstand berechnet dabei blos die Cassa, nicht die Kunst, nicht die
Vorführung und Betrachtung eines großen Talentes wird berücksichtigt,
sondern das Plus und Minus der Einnahme. Die Jungfrau von Or¬
leans tragt 2 Schock Thaler mehr ein — so geben wir sie zwei Mal
und » Shakespeare! Dies nennt man eine Hostheaterlcitung in der
Stadt der Intelligenz! - Sprechen wir nun ein Wort über den Gehalt
des Gastes, so sind es drei Eigenschaften, die ihre hohe künstlerische Be¬
deutung bilden: Das vollständigste Durchdringen des geistigen Inhaltes
der Dichtung, der sittliche Ernst und der tiefe Adel der Darstellung und
endlich ein wunderbarer Zauber der Weiblichkeit, der über alle ihre Cha¬
rakteristiken ausgebreitet ist. Die Schattenseite der Künstlerin dagegen
ist der allzugroße Werth, den sie auf die Declamation legt und ihre fast
dem Gesänge sich nähernde Art des Vortrags, die auf- und niederstei¬
gende, durch alle Töne der Scala sich bewegende Recitation. Hier aller¬
dings müssen wir die Schuld auf die wiener Mode, oder richtiger auf
die wiener Zustände schieben. Abgesehen, daß man im deutschen Süden
überhaupt mehr Werth auf den lyrischen Pathos legt, ist die weichliche
Schule der wiener dramatischen Poeten noch insbesondere auf den Glanz
der „schönen Sprache" angewiesen. In dem engen Raum des politisch
Erlaubten, der den wiener Dramatikern zugeschnitten ist, müssen sie, statt
große, freie Charaktere zu schaffen und in kühnen, nach Staat und Reli¬
gion hingewendeten Gedanken sich zu ergehen, in das stille Haus der
Gefühlspoesie sich flüchten, den Dialog in lyrische Aphorismen auflösen
und überhaupt in allen dramatischen Conceptionen mehr die weibliche
Seite pflegen als die productive männliche. So liegt die Schönrednerei
nahe genug, um bei der ersten Gelegenheit den Schauspieler in Manie-
rirtheit zu stürzen. Diese Gefahr wird um so größer und das Hinein¬
stürzen um so unvermeidlicher, wo der Kritik die Flügel beschnitten sind
und die Beurtheilung eines Schauspielers die Approbation der Polizei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/186>, abgerufen am 24.07.2024.