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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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es ist. Er kennt das Volk. Er will keine Aquarellbilder, keinen Duft,
keine Romantik, sondern die Wahrheit, die Wirklichkeit schildern, über
welche er begeistert und prophetisch zu großem Horizonten emporsieht.
Wie Gotthelf den Beruf des Volksschriftstellers faßt, hat er etwas
Anderes zu thun, als die gebildeten Stände zu unterhalten, auf eine
neue Manier, oder als der Masse zu schmeicheln.

Die Ausmalung der Jnstincte und der rohen Natürlichkeit ist für
Gotthelf nichts Wesentliches, für ihn ist der Jnstinct und die Natür¬
lichkeit eines sogenannten Volksthums nicht das Höchste, sondern der
freie Mensch und die Selbstbestimmung des Menschen. Aber wie ver¬
folgt er denn diesen Zweck? Etwa dadurch, daß er zu den Theorien
der norddeutschen Volksliteratur überspringt? Keineswegs. Sondern
indem er das Leben über die Jnstincte und über die Theorien mit sel¬
tener Frische und Kühnheit emporhebt und indem er ein glücklicher,
unbefangener, selbst genialer Zeichner des Lebens selber wird. Indem
er das Volksleben weder als Instinct noch blos mit dem Maße der
allerneuesten Theorie betrachtet, sondern indem er in seinen Schilderun¬
gen und Charakteren das Volksleben als den Zustand nachweiset, in
dem die rohen Jnstincte und Natürlichkeiten einerseits mit der Ver¬
wahrlosung unseres gesellschaftlichen, sittlichen, politischen Zustandes
sich herausstaffiren, andererseits aber mit den Ahnungen eines freiern
Menschenthums und mit dem Drange nach Geist, Gedanke, Selbst¬
bestimmung in die verschiedensten Conflicte gerathen. Er verfolgt die
Zerfallenheiten und die Verworrenheiten, den Riß, der durch die Natur
des Volkes geht, bis in die tiefsten Falten der Figuren, welche er auf¬
stellt. Er macht das Volk weder besser, noch schlechter, als es ist,
aber er beweist durch seine Zeichnungen, wie und wodurch das Volk
gesunken ist, wie es schlecht werden mußte, aber auch wie es gehoben
werden kann und welche Kräfte noch in ihm schlummern und vor der
Verwahrlosung zu retten sein werden.

Und zudem ist nicht blos sein psychologischer Blick in die ganze
Natur des Volkes, in die Existenz, in die Motive desselben überra¬
schend und bewunderungswürdig zu nennen, auch seine poetische Be¬
gabung ist eine bedeutende. Dadurch, daß er die Poesie weder als
untergeordnet unter eine Theorie noch als Sentimentalität betrachtet,
hilft er einer höhern und großartigen Auffassung der Volksliteratur
nicht wenig zu ihrem Rechte. Welche Gestalten weiß Gotthelf zu
schaffen und wie psychologisch, wie poetisch weiß er sie durch alle
Conflicte durchzuführen! Mit welchem poetischen Humor steht er, als


es ist. Er kennt das Volk. Er will keine Aquarellbilder, keinen Duft,
keine Romantik, sondern die Wahrheit, die Wirklichkeit schildern, über
welche er begeistert und prophetisch zu großem Horizonten emporsieht.
Wie Gotthelf den Beruf des Volksschriftstellers faßt, hat er etwas
Anderes zu thun, als die gebildeten Stände zu unterhalten, auf eine
neue Manier, oder als der Masse zu schmeicheln.

Die Ausmalung der Jnstincte und der rohen Natürlichkeit ist für
Gotthelf nichts Wesentliches, für ihn ist der Jnstinct und die Natür¬
lichkeit eines sogenannten Volksthums nicht das Höchste, sondern der
freie Mensch und die Selbstbestimmung des Menschen. Aber wie ver¬
folgt er denn diesen Zweck? Etwa dadurch, daß er zu den Theorien
der norddeutschen Volksliteratur überspringt? Keineswegs. Sondern
indem er das Leben über die Jnstincte und über die Theorien mit sel¬
tener Frische und Kühnheit emporhebt und indem er ein glücklicher,
unbefangener, selbst genialer Zeichner des Lebens selber wird. Indem
er das Volksleben weder als Instinct noch blos mit dem Maße der
allerneuesten Theorie betrachtet, sondern indem er in seinen Schilderun¬
gen und Charakteren das Volksleben als den Zustand nachweiset, in
dem die rohen Jnstincte und Natürlichkeiten einerseits mit der Ver¬
wahrlosung unseres gesellschaftlichen, sittlichen, politischen Zustandes
sich herausstaffiren, andererseits aber mit den Ahnungen eines freiern
Menschenthums und mit dem Drange nach Geist, Gedanke, Selbst¬
bestimmung in die verschiedensten Conflicte gerathen. Er verfolgt die
Zerfallenheiten und die Verworrenheiten, den Riß, der durch die Natur
des Volkes geht, bis in die tiefsten Falten der Figuren, welche er auf¬
stellt. Er macht das Volk weder besser, noch schlechter, als es ist,
aber er beweist durch seine Zeichnungen, wie und wodurch das Volk
gesunken ist, wie es schlecht werden mußte, aber auch wie es gehoben
werden kann und welche Kräfte noch in ihm schlummern und vor der
Verwahrlosung zu retten sein werden.

Und zudem ist nicht blos sein psychologischer Blick in die ganze
Natur des Volkes, in die Existenz, in die Motive desselben überra¬
schend und bewunderungswürdig zu nennen, auch seine poetische Be¬
gabung ist eine bedeutende. Dadurch, daß er die Poesie weder als
untergeordnet unter eine Theorie noch als Sentimentalität betrachtet,
hilft er einer höhern und großartigen Auffassung der Volksliteratur
nicht wenig zu ihrem Rechte. Welche Gestalten weiß Gotthelf zu
schaffen und wie psychologisch, wie poetisch weiß er sie durch alle
Conflicte durchzuführen! Mit welchem poetischen Humor steht er, als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/170>, abgerufen am 24.07.2024.