Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Werden zu wollen. Weil in der Schweiz das Volk immer eine Macht
geblieben ist und weil es sich dort in feinen Bestrebungen immer unmit¬
telbarer geltend machen konnte, als in Deutschland, wo ganz andere
Factoren es verdrängten, konnte und mußte eben auf dein schweizer
Boden ein Volksschriftsteller erstehen, der die beiden Gegensätze der
neuen deutschen Volksliteratur, der norddeutschen und der süddeutschen
Richtung, kräftig vermeidet und sie beide zu einer Versöhnung, zu einer
Volksliteratur im großartigern Sinne emporhebt. Wir meinen eben
den Volksschriftsteller Jeremias Gotthelf, seines wirklichen Namens
den Pfarrer Bizius im Canton Bern.

Jeremias Gotthelf ist schon lange auf dem Gebiete der Volks¬
literatur thätig gewesen, ehe er in Norddeutschland auch nur noch dem
Namen nach gekannt wurde, seine "Leiden und Freuden eines Schul¬
meisters" z. B. sind schon 1836 (Bern, wagner'sche Buchhandlung)
erschienen Er schrieb nicht blos vom Volte, sondern auch für das
Volk und ganz direct für das Schweizervolk mit seiner besondern Sitte
und seinem besondern Dialekte. Er hatte sein Volk, sein locales Ter¬
rain im Auge, er kümmerte sich nicht um die breite Straße der Ro¬
manliteratur und um die Leselust, um den gebeizten Appetit der "ge¬
bildeten Klassen." Deshalb wurde er als ein Stück "Localliteratur"
Übersehen und er blieb bis in die neueste Zeit unbeachtet, wo man
ihn in Norddeutschland schätzen und seine großen Talente als Volks¬
schriftsteller würdigen lernt. Schon darin, daß Gotthelf nicht blos
vom Volke schreibt, sondern daß ihm auch das Volk sein Publicum
geworden ist, hat er einen großen Vorzug vor unserer, sei es der süd¬
deutschen, sei es der norddeutschen Volksliteraturrichtung, welche Alles
gethan zu haben glaubt, weiln sie die gebildeten Klaffen auf dem
Sopha, im Lehnstuhl von den Leiden und Regungen des Volkes, sei
es in sentimental-gemüthlicher, sei es in socialistischer Färbung einige
Stundeir lang unterhält. Das Volk ist für Gotthelf nicht blos ein
Material, welches er nach Laune und Selbstbefriedigung verarbeiten
kann, die Erhebung, die Versittlichung des Volkes ist sein entschiede¬
ner Zweck. Und deshalb ist Jeremias Gotthelf weit davon entfernt,
ein Schmeichler der Masse zu werden, während unsere süddeutsche
Volksliteratur den natürlichen Instituten, die norddeutsche den socialen
Berechtigungen derselben schmeichelt. Gotthelf nimmt das Volk wie



*) Später erschienen: "Ali, der Knecht" -- "Der Bauernspiegel" -- "Der
Geldtag, oder die Wirthschaft nach der neuen Mode" u. f. w.
21-!-

Werden zu wollen. Weil in der Schweiz das Volk immer eine Macht
geblieben ist und weil es sich dort in feinen Bestrebungen immer unmit¬
telbarer geltend machen konnte, als in Deutschland, wo ganz andere
Factoren es verdrängten, konnte und mußte eben auf dein schweizer
Boden ein Volksschriftsteller erstehen, der die beiden Gegensätze der
neuen deutschen Volksliteratur, der norddeutschen und der süddeutschen
Richtung, kräftig vermeidet und sie beide zu einer Versöhnung, zu einer
Volksliteratur im großartigern Sinne emporhebt. Wir meinen eben
den Volksschriftsteller Jeremias Gotthelf, seines wirklichen Namens
den Pfarrer Bizius im Canton Bern.

Jeremias Gotthelf ist schon lange auf dem Gebiete der Volks¬
literatur thätig gewesen, ehe er in Norddeutschland auch nur noch dem
Namen nach gekannt wurde, seine „Leiden und Freuden eines Schul¬
meisters" z. B. sind schon 1836 (Bern, wagner'sche Buchhandlung)
erschienen Er schrieb nicht blos vom Volte, sondern auch für das
Volk und ganz direct für das Schweizervolk mit seiner besondern Sitte
und seinem besondern Dialekte. Er hatte sein Volk, sein locales Ter¬
rain im Auge, er kümmerte sich nicht um die breite Straße der Ro¬
manliteratur und um die Leselust, um den gebeizten Appetit der „ge¬
bildeten Klassen." Deshalb wurde er als ein Stück „Localliteratur"
Übersehen und er blieb bis in die neueste Zeit unbeachtet, wo man
ihn in Norddeutschland schätzen und seine großen Talente als Volks¬
schriftsteller würdigen lernt. Schon darin, daß Gotthelf nicht blos
vom Volke schreibt, sondern daß ihm auch das Volk sein Publicum
geworden ist, hat er einen großen Vorzug vor unserer, sei es der süd¬
deutschen, sei es der norddeutschen Volksliteraturrichtung, welche Alles
gethan zu haben glaubt, weiln sie die gebildeten Klaffen auf dem
Sopha, im Lehnstuhl von den Leiden und Regungen des Volkes, sei
es in sentimental-gemüthlicher, sei es in socialistischer Färbung einige
Stundeir lang unterhält. Das Volk ist für Gotthelf nicht blos ein
Material, welches er nach Laune und Selbstbefriedigung verarbeiten
kann, die Erhebung, die Versittlichung des Volkes ist sein entschiede¬
ner Zweck. Und deshalb ist Jeremias Gotthelf weit davon entfernt,
ein Schmeichler der Masse zu werden, während unsere süddeutsche
Volksliteratur den natürlichen Instituten, die norddeutsche den socialen
Berechtigungen derselben schmeichelt. Gotthelf nimmt das Volk wie



*) Später erschienen: „Ali, der Knecht" — „Der Bauernspiegel" — „Der
Geldtag, oder die Wirthschaft nach der neuen Mode" u. f. w.
21-!-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183190"/>
          <p xml:id="ID_480" prev="#ID_479"> Werden zu wollen. Weil in der Schweiz das Volk immer eine Macht<lb/>
geblieben ist und weil es sich dort in feinen Bestrebungen immer unmit¬<lb/>
telbarer geltend machen konnte, als in Deutschland, wo ganz andere<lb/>
Factoren es verdrängten, konnte und mußte eben auf dein schweizer<lb/>
Boden ein Volksschriftsteller erstehen, der die beiden Gegensätze der<lb/>
neuen deutschen Volksliteratur, der norddeutschen und der süddeutschen<lb/>
Richtung, kräftig vermeidet und sie beide zu einer Versöhnung, zu einer<lb/>
Volksliteratur im großartigern Sinne emporhebt. Wir meinen eben<lb/>
den Volksschriftsteller Jeremias Gotthelf, seines wirklichen Namens<lb/>
den Pfarrer Bizius im Canton Bern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_481" next="#ID_482"> Jeremias Gotthelf ist schon lange auf dem Gebiete der Volks¬<lb/>
literatur thätig gewesen, ehe er in Norddeutschland auch nur noch dem<lb/>
Namen nach gekannt wurde, seine &#x201E;Leiden und Freuden eines Schul¬<lb/>
meisters" z. B. sind schon 1836 (Bern, wagner'sche Buchhandlung)<lb/>
erschienen Er schrieb nicht blos vom Volte, sondern auch für das<lb/>
Volk und ganz direct für das Schweizervolk mit seiner besondern Sitte<lb/>
und seinem besondern Dialekte. Er hatte sein Volk, sein locales Ter¬<lb/>
rain im Auge, er kümmerte sich nicht um die breite Straße der Ro¬<lb/>
manliteratur und um die Leselust, um den gebeizten Appetit der &#x201E;ge¬<lb/>
bildeten Klassen." Deshalb wurde er als ein Stück &#x201E;Localliteratur"<lb/>
Übersehen und er blieb bis in die neueste Zeit unbeachtet, wo man<lb/>
ihn in Norddeutschland schätzen und seine großen Talente als Volks¬<lb/>
schriftsteller würdigen lernt. Schon darin, daß Gotthelf nicht blos<lb/>
vom Volke schreibt, sondern daß ihm auch das Volk sein Publicum<lb/>
geworden ist, hat er einen großen Vorzug vor unserer, sei es der süd¬<lb/>
deutschen, sei es der norddeutschen Volksliteraturrichtung, welche Alles<lb/>
gethan zu haben glaubt, weiln sie die gebildeten Klaffen auf dem<lb/>
Sopha, im Lehnstuhl von den Leiden und Regungen des Volkes, sei<lb/>
es in sentimental-gemüthlicher, sei es in socialistischer Färbung einige<lb/>
Stundeir lang unterhält. Das Volk ist für Gotthelf nicht blos ein<lb/>
Material, welches er nach Laune und Selbstbefriedigung verarbeiten<lb/>
kann, die Erhebung, die Versittlichung des Volkes ist sein entschiede¬<lb/>
ner Zweck. Und deshalb ist Jeremias Gotthelf weit davon entfernt,<lb/>
ein Schmeichler der Masse zu werden, während unsere süddeutsche<lb/>
Volksliteratur den natürlichen Instituten, die norddeutsche den socialen<lb/>
Berechtigungen derselben schmeichelt.  Gotthelf nimmt das Volk wie</p><lb/>
          <note xml:id="FID_7" place="foot"> *) Später erschienen: &#x201E;Ali, der Knecht" &#x2014; &#x201E;Der Bauernspiegel" &#x2014; &#x201E;Der<lb/>
Geldtag, oder die Wirthschaft nach der neuen Mode" u. f. w.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 21-!-</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0169] Werden zu wollen. Weil in der Schweiz das Volk immer eine Macht geblieben ist und weil es sich dort in feinen Bestrebungen immer unmit¬ telbarer geltend machen konnte, als in Deutschland, wo ganz andere Factoren es verdrängten, konnte und mußte eben auf dein schweizer Boden ein Volksschriftsteller erstehen, der die beiden Gegensätze der neuen deutschen Volksliteratur, der norddeutschen und der süddeutschen Richtung, kräftig vermeidet und sie beide zu einer Versöhnung, zu einer Volksliteratur im großartigern Sinne emporhebt. Wir meinen eben den Volksschriftsteller Jeremias Gotthelf, seines wirklichen Namens den Pfarrer Bizius im Canton Bern. Jeremias Gotthelf ist schon lange auf dem Gebiete der Volks¬ literatur thätig gewesen, ehe er in Norddeutschland auch nur noch dem Namen nach gekannt wurde, seine „Leiden und Freuden eines Schul¬ meisters" z. B. sind schon 1836 (Bern, wagner'sche Buchhandlung) erschienen Er schrieb nicht blos vom Volte, sondern auch für das Volk und ganz direct für das Schweizervolk mit seiner besondern Sitte und seinem besondern Dialekte. Er hatte sein Volk, sein locales Ter¬ rain im Auge, er kümmerte sich nicht um die breite Straße der Ro¬ manliteratur und um die Leselust, um den gebeizten Appetit der „ge¬ bildeten Klassen." Deshalb wurde er als ein Stück „Localliteratur" Übersehen und er blieb bis in die neueste Zeit unbeachtet, wo man ihn in Norddeutschland schätzen und seine großen Talente als Volks¬ schriftsteller würdigen lernt. Schon darin, daß Gotthelf nicht blos vom Volke schreibt, sondern daß ihm auch das Volk sein Publicum geworden ist, hat er einen großen Vorzug vor unserer, sei es der süd¬ deutschen, sei es der norddeutschen Volksliteraturrichtung, welche Alles gethan zu haben glaubt, weiln sie die gebildeten Klaffen auf dem Sopha, im Lehnstuhl von den Leiden und Regungen des Volkes, sei es in sentimental-gemüthlicher, sei es in socialistischer Färbung einige Stundeir lang unterhält. Das Volk ist für Gotthelf nicht blos ein Material, welches er nach Laune und Selbstbefriedigung verarbeiten kann, die Erhebung, die Versittlichung des Volkes ist sein entschiede¬ ner Zweck. Und deshalb ist Jeremias Gotthelf weit davon entfernt, ein Schmeichler der Masse zu werden, während unsere süddeutsche Volksliteratur den natürlichen Instituten, die norddeutsche den socialen Berechtigungen derselben schmeichelt. Gotthelf nimmt das Volk wie *) Später erschienen: „Ali, der Knecht" — „Der Bauernspiegel" — „Der Geldtag, oder die Wirthschaft nach der neuen Mode" u. f. w. 21-!-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/169
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/169>, abgerufen am 24.07.2024.