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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Volksliede: "Die letzten Zehn vom vierten Regiment" kamen wir
auf Polen und auf die "große Wunde der Menschheit." -- Noch
sprachen wir davon, und lobten begeistert was zu loben war, und
fluchten was zu verfluchen war, Meißner pries das Glück eines
Dichters, dessen Lieder in allen Schenken gesungen werden, ohne
daß man seinen Namen kennt, Hartmann ballte die Faust gegen
Nußland -- da -- wie ein Geistcrlaut durchschauerte es uns
da von tiefer, zitternder Stimme gesungen, tönte es aus der ersten
Stube in unsere Einsamkeit herüber: "Bei Warschau schwuren
tausend auf den Knieen" u. s. w. Wie verzaubert sahen wir uns
schweigend an, und stürzten einer vor dem andern hinein, woher
uns das Lied entgegenklang. -- Da saß ein alter blasser Mann
mit langen zurückgekämmten Haaren und langem Barte; in einen
weißen, weiten Ueberrock gehüllt, eine alte Harfe in der Hand,
und sang das Lied mit bebender Stimme vor sich hin, ohne einen
der Umstehenden eines Blickes zu würdigen. -- Es war ein alter,
flüchtiger Pole, der singend bettelte und bettelnd sein todtes Va¬
terland beklagte. -- Man kann denken, welchen Eindruck die
ganze, geisterhafte, wie durch die innere Begeisterung der Poeten
citirte Erscheinung auf uns machte. Als gälte es ein gottgefälli¬
ges Opfer, wurden alle Taschen umgekehrt und in den Hut des
Verbannten geleert. -- Der aber ging schweigend, kaum daß er
zur Hälfte unsere Fragen beantwortete, von dannen, und ver¬
gebens war am andern Tage alles Nachfragen -- er war und
blieb verschwunden.

Solcher Abende, solcher schönen geisterhaften Zufälle gab es
beim rothen Thurme nicht wenige. Bei Gott, man befand sich
dort mitten unter Rauch und Mäklern viel besser als in den schö¬
nen literarisch aufgeputzten Zimmern des Herrn M. -- Sein
Punsch war gut, sein Thee war klar, seine Cigarren waren duf¬
tig -- aber seine Verse und das Trauerspiel CyrusÜ -- Die
Tage des Lebens vergess' ich's nicht! -- Sehr anverwandt mit die¬
sen Zimmern waren die literarisch-artistischen Salons des Cancan
plaudernden deutschen Edelmanns. -- Man genoß daselbst Litera¬
tur und Kunst und Fasanen und Rebhühner. Letztere beiden waren
ganz vortrefflich. -- In den Salons der Frau von H. litt man
wahre Höllenpein und lag ewig auf der Folter. -- Es that


Erc"ibote", 154". I. Il)

Volksliede: „Die letzten Zehn vom vierten Regiment" kamen wir
auf Polen und auf die „große Wunde der Menschheit." — Noch
sprachen wir davon, und lobten begeistert was zu loben war, und
fluchten was zu verfluchen war, Meißner pries das Glück eines
Dichters, dessen Lieder in allen Schenken gesungen werden, ohne
daß man seinen Namen kennt, Hartmann ballte die Faust gegen
Nußland — da — wie ein Geistcrlaut durchschauerte es uns
da von tiefer, zitternder Stimme gesungen, tönte es aus der ersten
Stube in unsere Einsamkeit herüber: „Bei Warschau schwuren
tausend auf den Knieen" u. s. w. Wie verzaubert sahen wir uns
schweigend an, und stürzten einer vor dem andern hinein, woher
uns das Lied entgegenklang. — Da saß ein alter blasser Mann
mit langen zurückgekämmten Haaren und langem Barte; in einen
weißen, weiten Ueberrock gehüllt, eine alte Harfe in der Hand,
und sang das Lied mit bebender Stimme vor sich hin, ohne einen
der Umstehenden eines Blickes zu würdigen. — Es war ein alter,
flüchtiger Pole, der singend bettelte und bettelnd sein todtes Va¬
terland beklagte. — Man kann denken, welchen Eindruck die
ganze, geisterhafte, wie durch die innere Begeisterung der Poeten
citirte Erscheinung auf uns machte. Als gälte es ein gottgefälli¬
ges Opfer, wurden alle Taschen umgekehrt und in den Hut des
Verbannten geleert. — Der aber ging schweigend, kaum daß er
zur Hälfte unsere Fragen beantwortete, von dannen, und ver¬
gebens war am andern Tage alles Nachfragen — er war und
blieb verschwunden.

Solcher Abende, solcher schönen geisterhaften Zufälle gab es
beim rothen Thurme nicht wenige. Bei Gott, man befand sich
dort mitten unter Rauch und Mäklern viel besser als in den schö¬
nen literarisch aufgeputzten Zimmern des Herrn M. — Sein
Punsch war gut, sein Thee war klar, seine Cigarren waren duf¬
tig — aber seine Verse und das Trauerspiel CyrusÜ — Die
Tage des Lebens vergess' ich's nicht! — Sehr anverwandt mit die¬
sen Zimmern waren die literarisch-artistischen Salons des Cancan
plaudernden deutschen Edelmanns. — Man genoß daselbst Litera¬
tur und Kunst und Fasanen und Rebhühner. Letztere beiden waren
ganz vortrefflich. — In den Salons der Frau von H. litt man
wahre Höllenpein und lag ewig auf der Folter. — Es that


Erc»ibote», 154«. I. Il)
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[0081] Volksliede: „Die letzten Zehn vom vierten Regiment" kamen wir auf Polen und auf die „große Wunde der Menschheit." — Noch sprachen wir davon, und lobten begeistert was zu loben war, und fluchten was zu verfluchen war, Meißner pries das Glück eines Dichters, dessen Lieder in allen Schenken gesungen werden, ohne daß man seinen Namen kennt, Hartmann ballte die Faust gegen Nußland — da — wie ein Geistcrlaut durchschauerte es uns da von tiefer, zitternder Stimme gesungen, tönte es aus der ersten Stube in unsere Einsamkeit herüber: „Bei Warschau schwuren tausend auf den Knieen" u. s. w. Wie verzaubert sahen wir uns schweigend an, und stürzten einer vor dem andern hinein, woher uns das Lied entgegenklang. — Da saß ein alter blasser Mann mit langen zurückgekämmten Haaren und langem Barte; in einen weißen, weiten Ueberrock gehüllt, eine alte Harfe in der Hand, und sang das Lied mit bebender Stimme vor sich hin, ohne einen der Umstehenden eines Blickes zu würdigen. — Es war ein alter, flüchtiger Pole, der singend bettelte und bettelnd sein todtes Va¬ terland beklagte. — Man kann denken, welchen Eindruck die ganze, geisterhafte, wie durch die innere Begeisterung der Poeten citirte Erscheinung auf uns machte. Als gälte es ein gottgefälli¬ ges Opfer, wurden alle Taschen umgekehrt und in den Hut des Verbannten geleert. — Der aber ging schweigend, kaum daß er zur Hälfte unsere Fragen beantwortete, von dannen, und ver¬ gebens war am andern Tage alles Nachfragen — er war und blieb verschwunden. Solcher Abende, solcher schönen geisterhaften Zufälle gab es beim rothen Thurme nicht wenige. Bei Gott, man befand sich dort mitten unter Rauch und Mäklern viel besser als in den schö¬ nen literarisch aufgeputzten Zimmern des Herrn M. — Sein Punsch war gut, sein Thee war klar, seine Cigarren waren duf¬ tig — aber seine Verse und das Trauerspiel CyrusÜ — Die Tage des Lebens vergess' ich's nicht! — Sehr anverwandt mit die¬ sen Zimmern waren die literarisch-artistischen Salons des Cancan plaudernden deutschen Edelmanns. — Man genoß daselbst Litera¬ tur und Kunst und Fasanen und Rebhühner. Letztere beiden waren ganz vortrefflich. — In den Salons der Frau von H. litt man wahre Höllenpein und lag ewig auf der Folter. — Es that Erc»ibote», 154«. I. Il)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/81>, abgerufen am 23.12.2024.