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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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plötzlich der Gedanke überkam? wie muß die ganze Wüste die um
ihn lag und die ganze Wüste des Lebens sich mit einem Male
als eine farblose s-et-t morg'im" in seinem Herzen wieder gespiegelt
haben! -- Aehnlich mag es Lippmann in Paris gegangen sein.
Zu viele Menschen und eine lebenslose Wildniß -- Paris und
eine sandige, stumme Seppe -- sie heben sich auf, sie haben beide
dieselben Effecte. --

Aber ich komme über die Todten nicht zu den Lebenden und
zum rothen Thurme, dahin mich doch meine Seele zieht. -- Da
in der zweiten Stube an meinem einsamen Tisch von einer armseligen
Kerze beleuchtet, sitzen sie in Cigarrendampf gehüllt wie Ossianische
Ncbelgeister. -- Der Blondkopf Alfred Meissner mit den Kinder-
augen, das männliche Gesicht Moritz Hartmanns mit spanischen
Bärten und das blasse unscheinbare Profil Friedrich Bachs. --
Bach hat in seinem ganzen Wesen etwas von einem Schlehmil, und
hat das schauderhafte Unglück oft für einen Juden gehalten zu
werden, wie das ganze junge Deutschland) und doch ist er ein
so guter Christ wie Angelus Silcsius. -- Die Poeten bedient
als Nectar krendenzende Hebe eine schöne braunäugige Böhmin,
über deren Unschuld und irdischen Wandel sie brüderlich wachen.
Die armen Idealisten, was mußten sie später von Fanny hören ; --
Es war ein Rosenstock auf offener Heerstraße gepflanzt, von dem
jeder Vorübergehende ein Röschen brach, wie Friedrich Bach
sagte. -- Das und noch mehr Schönes sagte er in den "sen¬
sitiven", die damals im Jahre 1838 in Leipzig erschienen und
von deren Erfolge wir uns so viel versprachen. -- Wir täuschten
uns, denn sie gingen unbeachtet vorüber, und eine einzige Kritik ist
uns zu Gesichte gekommen. -- Die stillen, süßen, tiefen Lieder
konnten in unserer Zeit nicht gehört und mußten von dem ideellen
Waffenlärm übertönt werden. -- Wer hätte eine "melodische Gras¬
mücke" gehört, die sich mit ihrem schönsten Liede auf das Bajonett
eines Soldaten gesetzt hätte, während Ludwig XVI. unter dem
Trommelschlag hingerichtet wurde. Nach fünfzig Jahren vielleicht,
wenn das menschliche Herz wieder zu seinem Gemüthsrechte kommt
und die Zeiten stiller und glücklicher sind -- dann findet vielleicht
irgend ein Poet auf irgend einer Bibliothek Bachs Gedichte und
gräbt sie wie einen Schatz zu Aller Ergötzen aus dem Schütte


plötzlich der Gedanke überkam? wie muß die ganze Wüste die um
ihn lag und die ganze Wüste des Lebens sich mit einem Male
als eine farblose s-et-t morg'im» in seinem Herzen wieder gespiegelt
haben! — Aehnlich mag es Lippmann in Paris gegangen sein.
Zu viele Menschen und eine lebenslose Wildniß — Paris und
eine sandige, stumme Seppe — sie heben sich auf, sie haben beide
dieselben Effecte. —

Aber ich komme über die Todten nicht zu den Lebenden und
zum rothen Thurme, dahin mich doch meine Seele zieht. — Da
in der zweiten Stube an meinem einsamen Tisch von einer armseligen
Kerze beleuchtet, sitzen sie in Cigarrendampf gehüllt wie Ossianische
Ncbelgeister. — Der Blondkopf Alfred Meissner mit den Kinder-
augen, das männliche Gesicht Moritz Hartmanns mit spanischen
Bärten und das blasse unscheinbare Profil Friedrich Bachs. —
Bach hat in seinem ganzen Wesen etwas von einem Schlehmil, und
hat das schauderhafte Unglück oft für einen Juden gehalten zu
werden, wie das ganze junge Deutschland) und doch ist er ein
so guter Christ wie Angelus Silcsius. — Die Poeten bedient
als Nectar krendenzende Hebe eine schöne braunäugige Böhmin,
über deren Unschuld und irdischen Wandel sie brüderlich wachen.
Die armen Idealisten, was mußten sie später von Fanny hören ; —
Es war ein Rosenstock auf offener Heerstraße gepflanzt, von dem
jeder Vorübergehende ein Röschen brach, wie Friedrich Bach
sagte. — Das und noch mehr Schönes sagte er in den „sen¬
sitiven", die damals im Jahre 1838 in Leipzig erschienen und
von deren Erfolge wir uns so viel versprachen. — Wir täuschten
uns, denn sie gingen unbeachtet vorüber, und eine einzige Kritik ist
uns zu Gesichte gekommen. — Die stillen, süßen, tiefen Lieder
konnten in unserer Zeit nicht gehört und mußten von dem ideellen
Waffenlärm übertönt werden. — Wer hätte eine „melodische Gras¬
mücke" gehört, die sich mit ihrem schönsten Liede auf das Bajonett
eines Soldaten gesetzt hätte, während Ludwig XVI. unter dem
Trommelschlag hingerichtet wurde. Nach fünfzig Jahren vielleicht,
wenn das menschliche Herz wieder zu seinem Gemüthsrechte kommt
und die Zeiten stiller und glücklicher sind — dann findet vielleicht
irgend ein Poet auf irgend einer Bibliothek Bachs Gedichte und
gräbt sie wie einen Schatz zu Aller Ergötzen aus dem Schütte


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[0077] plötzlich der Gedanke überkam? wie muß die ganze Wüste die um ihn lag und die ganze Wüste des Lebens sich mit einem Male als eine farblose s-et-t morg'im» in seinem Herzen wieder gespiegelt haben! — Aehnlich mag es Lippmann in Paris gegangen sein. Zu viele Menschen und eine lebenslose Wildniß — Paris und eine sandige, stumme Seppe — sie heben sich auf, sie haben beide dieselben Effecte. — Aber ich komme über die Todten nicht zu den Lebenden und zum rothen Thurme, dahin mich doch meine Seele zieht. — Da in der zweiten Stube an meinem einsamen Tisch von einer armseligen Kerze beleuchtet, sitzen sie in Cigarrendampf gehüllt wie Ossianische Ncbelgeister. — Der Blondkopf Alfred Meissner mit den Kinder- augen, das männliche Gesicht Moritz Hartmanns mit spanischen Bärten und das blasse unscheinbare Profil Friedrich Bachs. — Bach hat in seinem ganzen Wesen etwas von einem Schlehmil, und hat das schauderhafte Unglück oft für einen Juden gehalten zu werden, wie das ganze junge Deutschland) und doch ist er ein so guter Christ wie Angelus Silcsius. — Die Poeten bedient als Nectar krendenzende Hebe eine schöne braunäugige Böhmin, über deren Unschuld und irdischen Wandel sie brüderlich wachen. Die armen Idealisten, was mußten sie später von Fanny hören ; — Es war ein Rosenstock auf offener Heerstraße gepflanzt, von dem jeder Vorübergehende ein Röschen brach, wie Friedrich Bach sagte. — Das und noch mehr Schönes sagte er in den „sen¬ sitiven", die damals im Jahre 1838 in Leipzig erschienen und von deren Erfolge wir uns so viel versprachen. — Wir täuschten uns, denn sie gingen unbeachtet vorüber, und eine einzige Kritik ist uns zu Gesichte gekommen. — Die stillen, süßen, tiefen Lieder konnten in unserer Zeit nicht gehört und mußten von dem ideellen Waffenlärm übertönt werden. — Wer hätte eine „melodische Gras¬ mücke" gehört, die sich mit ihrem schönsten Liede auf das Bajonett eines Soldaten gesetzt hätte, während Ludwig XVI. unter dem Trommelschlag hingerichtet wurde. Nach fünfzig Jahren vielleicht, wenn das menschliche Herz wieder zu seinem Gemüthsrechte kommt und die Zeiten stiller und glücklicher sind — dann findet vielleicht irgend ein Poet auf irgend einer Bibliothek Bachs Gedichte und gräbt sie wie einen Schatz zu Aller Ergötzen aus dem Schütte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/77>, abgerufen am 28.07.2024.