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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Allein trotzdem hört man, besonders von Fremden, die Klage
über einen Mangel an Lebhaftigkeit in der Leipziger Gesellschaft
nicht selten. Man tadelt ein zurückhaltendes Wesen und Mangel
an Zuvorkommenheit gegen die Fremden. Dies mag bis zu einem
gewissen Punkte vollkommen wahr genannt werden; allein es fin¬
det auch seine naturgemäße Erklärung in den Verhältnissen der
Stadt. Leipzig ist durch den dauernden Weltverkehr gegen das
Fremde blasirt. Weil fortwährend neue Individualitäten aus den
fernsten Ländern und aus den verschiedensten Kreisen dieser Länder
in ihr auftauchen, hat sie jenes Interesse für den Einzelnen verlo¬
ren, welches andere minder von Fremden überfluthete Städte ihm
von vorn herein entgegenbringen. Einem großen Theile der Leip¬
ziger Gesellschaft ist dabei das auswärtige Leben, die dortige Anschau¬
ungsweise, sind die dortigen Interessen aus eigener Beobachung eben
so geläufig als die eigenen und heimischen. Der Fremde bringt
ihm daher wenig Neues und kann dadurch also nicht sogleich eine
Stellung in der Gesellschaft ersiegen. Erst ein längerer Verkehr in
und mit ihr, vermag diese zu bestimmen, und während der Fremde
anderer Orten zuerst das verzogene Kind derselben, dann aber häufig
von ihr fallen gelassen wird, kommt es in Leipzig nur auf seine
Persönlichkeit an -- welche allerdings durch Vermögen nicht un¬
wesentlich unterstützt wird -- um sich nach und nach sehr ange¬
nehm in derselben einzubürgern. Daher die Erscheinung, daß
Fremde, welche nur kurze Zeit in Leipzig lebten, meistens ziemlich
streng über dessen geselligen Charakter aburtheilen, während grade
dieselben Personen sich nach längerem Aufenthalt meistens sehr schwer
von Leipzig trennen. Dagegen übersättigt sich Leipzig sehr rasch
in fremden Berühmtheiten. Diese haben durchgängig nur eine
kurze Zeit, während welcher sie Mode sind, und dann ver¬
schwindet der Nimbus ihrer Namen, sie treiben eben nur mit dem
Strome der andern. Die Stadt ist zu klein, als daß die Trä¬
ger dieser Namen in immer neuen Kreisen neue Triumphe feiern
könnten, sie ist zu groß und besucht von allen Notabeln, um dem
Einzelnen lang eine ausschließliche Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Was von den Menschen, gilt auch von den Büchern; man
liest oder blättert sie durch und legt sie dann bei Seite, um andern,
neuen Platz zu machen. Es kommt nur auf ihren Inhalt an, ob


Gr-nzboten I. M

Allein trotzdem hört man, besonders von Fremden, die Klage
über einen Mangel an Lebhaftigkeit in der Leipziger Gesellschaft
nicht selten. Man tadelt ein zurückhaltendes Wesen und Mangel
an Zuvorkommenheit gegen die Fremden. Dies mag bis zu einem
gewissen Punkte vollkommen wahr genannt werden; allein es fin¬
det auch seine naturgemäße Erklärung in den Verhältnissen der
Stadt. Leipzig ist durch den dauernden Weltverkehr gegen das
Fremde blasirt. Weil fortwährend neue Individualitäten aus den
fernsten Ländern und aus den verschiedensten Kreisen dieser Länder
in ihr auftauchen, hat sie jenes Interesse für den Einzelnen verlo¬
ren, welches andere minder von Fremden überfluthete Städte ihm
von vorn herein entgegenbringen. Einem großen Theile der Leip¬
ziger Gesellschaft ist dabei das auswärtige Leben, die dortige Anschau¬
ungsweise, sind die dortigen Interessen aus eigener Beobachung eben
so geläufig als die eigenen und heimischen. Der Fremde bringt
ihm daher wenig Neues und kann dadurch also nicht sogleich eine
Stellung in der Gesellschaft ersiegen. Erst ein längerer Verkehr in
und mit ihr, vermag diese zu bestimmen, und während der Fremde
anderer Orten zuerst das verzogene Kind derselben, dann aber häufig
von ihr fallen gelassen wird, kommt es in Leipzig nur auf seine
Persönlichkeit an — welche allerdings durch Vermögen nicht un¬
wesentlich unterstützt wird — um sich nach und nach sehr ange¬
nehm in derselben einzubürgern. Daher die Erscheinung, daß
Fremde, welche nur kurze Zeit in Leipzig lebten, meistens ziemlich
streng über dessen geselligen Charakter aburtheilen, während grade
dieselben Personen sich nach längerem Aufenthalt meistens sehr schwer
von Leipzig trennen. Dagegen übersättigt sich Leipzig sehr rasch
in fremden Berühmtheiten. Diese haben durchgängig nur eine
kurze Zeit, während welcher sie Mode sind, und dann ver¬
schwindet der Nimbus ihrer Namen, sie treiben eben nur mit dem
Strome der andern. Die Stadt ist zu klein, als daß die Trä¬
ger dieser Namen in immer neuen Kreisen neue Triumphe feiern
könnten, sie ist zu groß und besucht von allen Notabeln, um dem
Einzelnen lang eine ausschließliche Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Was von den Menschen, gilt auch von den Büchern; man
liest oder blättert sie durch und legt sie dann bei Seite, um andern,
neuen Platz zu machen. Es kommt nur auf ihren Inhalt an, ob


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[0549] Allein trotzdem hört man, besonders von Fremden, die Klage über einen Mangel an Lebhaftigkeit in der Leipziger Gesellschaft nicht selten. Man tadelt ein zurückhaltendes Wesen und Mangel an Zuvorkommenheit gegen die Fremden. Dies mag bis zu einem gewissen Punkte vollkommen wahr genannt werden; allein es fin¬ det auch seine naturgemäße Erklärung in den Verhältnissen der Stadt. Leipzig ist durch den dauernden Weltverkehr gegen das Fremde blasirt. Weil fortwährend neue Individualitäten aus den fernsten Ländern und aus den verschiedensten Kreisen dieser Länder in ihr auftauchen, hat sie jenes Interesse für den Einzelnen verlo¬ ren, welches andere minder von Fremden überfluthete Städte ihm von vorn herein entgegenbringen. Einem großen Theile der Leip¬ ziger Gesellschaft ist dabei das auswärtige Leben, die dortige Anschau¬ ungsweise, sind die dortigen Interessen aus eigener Beobachung eben so geläufig als die eigenen und heimischen. Der Fremde bringt ihm daher wenig Neues und kann dadurch also nicht sogleich eine Stellung in der Gesellschaft ersiegen. Erst ein längerer Verkehr in und mit ihr, vermag diese zu bestimmen, und während der Fremde anderer Orten zuerst das verzogene Kind derselben, dann aber häufig von ihr fallen gelassen wird, kommt es in Leipzig nur auf seine Persönlichkeit an — welche allerdings durch Vermögen nicht un¬ wesentlich unterstützt wird — um sich nach und nach sehr ange¬ nehm in derselben einzubürgern. Daher die Erscheinung, daß Fremde, welche nur kurze Zeit in Leipzig lebten, meistens ziemlich streng über dessen geselligen Charakter aburtheilen, während grade dieselben Personen sich nach längerem Aufenthalt meistens sehr schwer von Leipzig trennen. Dagegen übersättigt sich Leipzig sehr rasch in fremden Berühmtheiten. Diese haben durchgängig nur eine kurze Zeit, während welcher sie Mode sind, und dann ver¬ schwindet der Nimbus ihrer Namen, sie treiben eben nur mit dem Strome der andern. Die Stadt ist zu klein, als daß die Trä¬ ger dieser Namen in immer neuen Kreisen neue Triumphe feiern könnten, sie ist zu groß und besucht von allen Notabeln, um dem Einzelnen lang eine ausschließliche Aufmerksamkeit zuzuwenden. Was von den Menschen, gilt auch von den Büchern; man liest oder blättert sie durch und legt sie dann bei Seite, um andern, neuen Platz zu machen. Es kommt nur auf ihren Inhalt an, ob Gr-nzboten I. M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/549>, abgerufen am 01.09.2024.