Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.Beobachtungen aus dem Kopfe stützen. Solches Kopfrechnen ist Nichts ist schwieriger, als die Beurtheilung sittlicher Zustände Beobachtungen aus dem Kopfe stützen. Solches Kopfrechnen ist Nichts ist schwieriger, als die Beurtheilung sittlicher Zustände <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0511" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182321"/> <p xml:id="ID_1201" prev="#ID_1200"> Beobachtungen aus dem Kopfe stützen. Solches Kopfrechnen ist<lb/> doppelt trügerisch, weil sich dem Gedächtniß oft nur jene Erschei¬<lb/> nungen und Fälle einprägen, die für den Beobachtenden ein beson¬<lb/> deres Interesse haben oder seiner Eigenliebe schmeicheln. So ha¬<lb/> ben die Aerzte, weil sie sich ihre Todten nicht gerne nachzählen<lb/> lassen, ein unzuverlässiges Gedächtniß und sind in der Regel keine<lb/> Freunde der Statistik, obwohl diese schon zu nützlichen Ergebnissen<lb/> geführt hat. Dr. Hawkins erzählt, daß er durch einen Freund<lb/> Beobachtungen in einem Spital.anstellen ließ, wo drei Aerzte<lb/> drei verschiedene Methoden anwendeten; der eine war ein Eklekti¬<lb/> ker, der andere war für das System des Zuwartens, der dritte<lb/> ein Toniker. Die Sterblichkeit blieb unter den Kranken der drei<lb/> Doctoren gleich groß, doch zeigte sich eine Verschiedenheit in der<lb/> Dauer der Krankheit, dem Charakter der Reconvalescenz und der<lb/> Anzahl der Rückfälle. Ein ähnliches Resultat liefert die Statistik<lb/> aller großen Spitäler Europas. Die Sterblichkeit variirt überall<lb/> nur um ein sehr Geringes und die Krankenwartung trägt demnach<lb/> mehr oder wenigstens eben so viel zur Heilung bei als die ver¬<lb/> ordneten Mixturen. Ueber den Einfluß des Alters auf den Blut¬<lb/> umlauf waren die Physiologen bis vor Kurzem im größten Irr¬<lb/> thum; man hatte entweder schlecht beobachtet oder die Durchschnitts¬<lb/> rechnung aus einer zu kleinen Zahl von beobachteten Fällen gezo¬<lb/> gen. In allen physiologischen Werken ward derselbe Irrthum wie¬<lb/> derholt und obwohl die Aerzte täglich Gelegenheit haben, den Puls<lb/> zu fühlen, dachten sie lange nicht daran, ihre Wahrnehmungen<lb/> aufzuschreiben. Erst kürzlich ergab sich, daß der Puls in der Re¬<lb/> gel im Greisenalter schneller geht als im Mannesalter und nicht<lb/> langsamer, wie man geglaubt hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1202" next="#ID_1203"> Nichts ist schwieriger, als die Beurtheilung sittlicher Zustände<lb/> eines Volkes nach der Anzahl seiner Verbrechen. Wie wenig sa¬<lb/> gen die Listen der Verurtheilten! Man muß vor allem bemerken,<lb/> daß es drei Kategorien von Verbrechen giebt: solche die bekannt<lb/> werden, so wie ihre Urheber, andere die wohl bekannt werden, ohne<lb/> daß man die Thäter entdeckt, endlich solche, die ganz verborgen<lb/> bleiben. Und nur die erste dieser drei Classen ist es, die der Sta¬<lb/> tistik Zahlen liefert. In Belgien kommen jährlich drei bis vierhun¬<lb/> dert Verbrechen vor die Assisen. Angenommen, daß alle vierhun-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0511]
Beobachtungen aus dem Kopfe stützen. Solches Kopfrechnen ist
doppelt trügerisch, weil sich dem Gedächtniß oft nur jene Erschei¬
nungen und Fälle einprägen, die für den Beobachtenden ein beson¬
deres Interesse haben oder seiner Eigenliebe schmeicheln. So ha¬
ben die Aerzte, weil sie sich ihre Todten nicht gerne nachzählen
lassen, ein unzuverlässiges Gedächtniß und sind in der Regel keine
Freunde der Statistik, obwohl diese schon zu nützlichen Ergebnissen
geführt hat. Dr. Hawkins erzählt, daß er durch einen Freund
Beobachtungen in einem Spital.anstellen ließ, wo drei Aerzte
drei verschiedene Methoden anwendeten; der eine war ein Eklekti¬
ker, der andere war für das System des Zuwartens, der dritte
ein Toniker. Die Sterblichkeit blieb unter den Kranken der drei
Doctoren gleich groß, doch zeigte sich eine Verschiedenheit in der
Dauer der Krankheit, dem Charakter der Reconvalescenz und der
Anzahl der Rückfälle. Ein ähnliches Resultat liefert die Statistik
aller großen Spitäler Europas. Die Sterblichkeit variirt überall
nur um ein sehr Geringes und die Krankenwartung trägt demnach
mehr oder wenigstens eben so viel zur Heilung bei als die ver¬
ordneten Mixturen. Ueber den Einfluß des Alters auf den Blut¬
umlauf waren die Physiologen bis vor Kurzem im größten Irr¬
thum; man hatte entweder schlecht beobachtet oder die Durchschnitts¬
rechnung aus einer zu kleinen Zahl von beobachteten Fällen gezo¬
gen. In allen physiologischen Werken ward derselbe Irrthum wie¬
derholt und obwohl die Aerzte täglich Gelegenheit haben, den Puls
zu fühlen, dachten sie lange nicht daran, ihre Wahrnehmungen
aufzuschreiben. Erst kürzlich ergab sich, daß der Puls in der Re¬
gel im Greisenalter schneller geht als im Mannesalter und nicht
langsamer, wie man geglaubt hatte.
Nichts ist schwieriger, als die Beurtheilung sittlicher Zustände
eines Volkes nach der Anzahl seiner Verbrechen. Wie wenig sa¬
gen die Listen der Verurtheilten! Man muß vor allem bemerken,
daß es drei Kategorien von Verbrechen giebt: solche die bekannt
werden, so wie ihre Urheber, andere die wohl bekannt werden, ohne
daß man die Thäter entdeckt, endlich solche, die ganz verborgen
bleiben. Und nur die erste dieser drei Classen ist es, die der Sta¬
tistik Zahlen liefert. In Belgien kommen jährlich drei bis vierhun¬
dert Verbrechen vor die Assisen. Angenommen, daß alle vierhun-
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