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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Schamgefühl, aber es ist ein naives Geständnis), und man möcht
beinahe sagen, es ist ehrlicher, als jene casuistisch diplomatischen
Phrasen doktrinärer Wohlredner, nach denen die Theilung Polens
nicht vor den Richterstuhl der gewöhnlichen Moral gehören soll
und mehr ein Act der Nothwendigkeit als der Absicht gewesen sei.
Nach dieser Doctrin ließen sich alle Gräuelthaten der Vergangen¬
heit weißwaschen und jedes künftige Unrecht im Voraus mit dem
Ablaß versehen. Kann man eine That nach der Nemesis beurthei¬
len, die ihr auf dem Fuße folgt, so ist die Theilung Polens längst
verurtheilt; denn während man noch darüber stritt, ob sie eine
Sünde gewesen oder nicht, kam man zu der Einsicht, daß sie, mit
Tallevrand zu reden, mehr als eine Sünde, daß sie ein Fehler war.
Rußland ist jetzt, was sich Maria Theresia in einem Brief an
Katharina so klug wie offenherzig verbitten wollte, Oesterreichs und
Preußens unmittelbarer Nachbar, und abgesehen von diesem mate¬
riellen Schaden, den das l'-rit aeeoin^II gebracht hat, so ist eS auch
ein Kul ilceompli, daß der Glaube an die Moral der Kabinette
durch jenen Streich einen Stoß erlitten hat, von dem man sich
nicht sobald wieder erholen wird.

Der Fürst Czartoryski, ver jetzt in Paris das Haupt der ro-
yalistischen Emigration ist, fiel mit seiner frühesten Jugend in diese
stürmischen letzten Tage Altpolenö, und die Thätigkeit seines gan¬
zen Lebens bestand daher in unglücklichen, aber großartigen und
verdienstvollen Anstrengungen, sein todtes Vaterland zu erwecken
und aus dem Grabe zu ziehen. Fürst Adam Georg Czartoryski,
im Jahre 1770, zwei Jahre vor der ersten Theilung Polens gebo¬
ren, ist ein Sohn von Adam Casimir, also ein Enkel von August
und ein Großneffe jenes kühnen lithauischen Großkanzlers, der in
den besten Absichten für sein Volk den Mißgriff beging, den Sta-
nislaus Poniatowski mit russischer Waffengewalt zum letzten Kö¬
nige von Polen zu krönen. Fürst Adam Georg genoß eine vortreff¬
liche politische Erziehung, namentlich auf seinen Reisen nach Deutsch¬
land, Frankreich und England, von denen er heimkehrte, um unter
Cosciuszko für die Constitution vom 3. Mai zu fechten. Nach der
dritten Theilung Polens war er fünfundzwanzig Jahre alt.

Rußland hatte die Czartoryski'schen Güter confiscire, gab sie
aber, auf Oesterreichs wohlwollende Verwendung, zurück, unter der


Grenzboten, Is-i". I. 44

Schamgefühl, aber es ist ein naives Geständnis), und man möcht
beinahe sagen, es ist ehrlicher, als jene casuistisch diplomatischen
Phrasen doktrinärer Wohlredner, nach denen die Theilung Polens
nicht vor den Richterstuhl der gewöhnlichen Moral gehören soll
und mehr ein Act der Nothwendigkeit als der Absicht gewesen sei.
Nach dieser Doctrin ließen sich alle Gräuelthaten der Vergangen¬
heit weißwaschen und jedes künftige Unrecht im Voraus mit dem
Ablaß versehen. Kann man eine That nach der Nemesis beurthei¬
len, die ihr auf dem Fuße folgt, so ist die Theilung Polens längst
verurtheilt; denn während man noch darüber stritt, ob sie eine
Sünde gewesen oder nicht, kam man zu der Einsicht, daß sie, mit
Tallevrand zu reden, mehr als eine Sünde, daß sie ein Fehler war.
Rußland ist jetzt, was sich Maria Theresia in einem Brief an
Katharina so klug wie offenherzig verbitten wollte, Oesterreichs und
Preußens unmittelbarer Nachbar, und abgesehen von diesem mate¬
riellen Schaden, den das l'-rit aeeoin^II gebracht hat, so ist eS auch
ein Kul ilceompli, daß der Glaube an die Moral der Kabinette
durch jenen Streich einen Stoß erlitten hat, von dem man sich
nicht sobald wieder erholen wird.

Der Fürst Czartoryski, ver jetzt in Paris das Haupt der ro-
yalistischen Emigration ist, fiel mit seiner frühesten Jugend in diese
stürmischen letzten Tage Altpolenö, und die Thätigkeit seines gan¬
zen Lebens bestand daher in unglücklichen, aber großartigen und
verdienstvollen Anstrengungen, sein todtes Vaterland zu erwecken
und aus dem Grabe zu ziehen. Fürst Adam Georg Czartoryski,
im Jahre 1770, zwei Jahre vor der ersten Theilung Polens gebo¬
ren, ist ein Sohn von Adam Casimir, also ein Enkel von August
und ein Großneffe jenes kühnen lithauischen Großkanzlers, der in
den besten Absichten für sein Volk den Mißgriff beging, den Sta-
nislaus Poniatowski mit russischer Waffengewalt zum letzten Kö¬
nige von Polen zu krönen. Fürst Adam Georg genoß eine vortreff¬
liche politische Erziehung, namentlich auf seinen Reisen nach Deutsch¬
land, Frankreich und England, von denen er heimkehrte, um unter
Cosciuszko für die Constitution vom 3. Mai zu fechten. Nach der
dritten Theilung Polens war er fünfundzwanzig Jahre alt.

Rußland hatte die Czartoryski'schen Güter confiscire, gab sie
aber, auf Oesterreichs wohlwollende Verwendung, zurück, unter der


Grenzboten, Is-i«. I. 44
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[0353] Schamgefühl, aber es ist ein naives Geständnis), und man möcht beinahe sagen, es ist ehrlicher, als jene casuistisch diplomatischen Phrasen doktrinärer Wohlredner, nach denen die Theilung Polens nicht vor den Richterstuhl der gewöhnlichen Moral gehören soll und mehr ein Act der Nothwendigkeit als der Absicht gewesen sei. Nach dieser Doctrin ließen sich alle Gräuelthaten der Vergangen¬ heit weißwaschen und jedes künftige Unrecht im Voraus mit dem Ablaß versehen. Kann man eine That nach der Nemesis beurthei¬ len, die ihr auf dem Fuße folgt, so ist die Theilung Polens längst verurtheilt; denn während man noch darüber stritt, ob sie eine Sünde gewesen oder nicht, kam man zu der Einsicht, daß sie, mit Tallevrand zu reden, mehr als eine Sünde, daß sie ein Fehler war. Rußland ist jetzt, was sich Maria Theresia in einem Brief an Katharina so klug wie offenherzig verbitten wollte, Oesterreichs und Preußens unmittelbarer Nachbar, und abgesehen von diesem mate¬ riellen Schaden, den das l'-rit aeeoin^II gebracht hat, so ist eS auch ein Kul ilceompli, daß der Glaube an die Moral der Kabinette durch jenen Streich einen Stoß erlitten hat, von dem man sich nicht sobald wieder erholen wird. Der Fürst Czartoryski, ver jetzt in Paris das Haupt der ro- yalistischen Emigration ist, fiel mit seiner frühesten Jugend in diese stürmischen letzten Tage Altpolenö, und die Thätigkeit seines gan¬ zen Lebens bestand daher in unglücklichen, aber großartigen und verdienstvollen Anstrengungen, sein todtes Vaterland zu erwecken und aus dem Grabe zu ziehen. Fürst Adam Georg Czartoryski, im Jahre 1770, zwei Jahre vor der ersten Theilung Polens gebo¬ ren, ist ein Sohn von Adam Casimir, also ein Enkel von August und ein Großneffe jenes kühnen lithauischen Großkanzlers, der in den besten Absichten für sein Volk den Mißgriff beging, den Sta- nislaus Poniatowski mit russischer Waffengewalt zum letzten Kö¬ nige von Polen zu krönen. Fürst Adam Georg genoß eine vortreff¬ liche politische Erziehung, namentlich auf seinen Reisen nach Deutsch¬ land, Frankreich und England, von denen er heimkehrte, um unter Cosciuszko für die Constitution vom 3. Mai zu fechten. Nach der dritten Theilung Polens war er fünfundzwanzig Jahre alt. Rußland hatte die Czartoryski'schen Güter confiscire, gab sie aber, auf Oesterreichs wohlwollende Verwendung, zurück, unter der Grenzboten, Is-i«. I. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/353>, abgerufen am 02.09.2024.