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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Volkseigenthum absolutistisch ist, während es mit den Interessen sei¬
ner guten Freunde sehr liberal umgehen und in der Fremde auch
mit republikanischen, revolutionären und anarchischen Tendenzen
tactvoll fraternisiren kann. Beinahe kindlich unschuldig erscheint ge¬
gen diese Al'-loca jleich jene altfranzösische Politik des Tyrannenflü¬
gelmanns Ludwig's XIV, die in Deutschland mit Recht so verhaßt
ist. Den Sinn des deutschen Volkes empört die eine Treulosig¬
keit wie die andere; eine deutsche Politik muß loyaler verfahren.
Leider aber hat auch bei uns seit Jahrhunderten keine deutsche Po¬
litik geherrscht, sondern bald eine spanisch-italienische, bald eine alt¬
französische oder slavische, bald ein zwischen allen fremden Syste¬
men schwankender Eklekticismus, bei dem die löcherige Moral die
fremden Muster, und das tölpische Ungeschick die deutsche Nachah¬
mung verrieth.

Doch kehren wir zu unserem Thema zurück. Nach der ersten
Theilung Polens (1772) sahen die Partheien die Nothwendigkeit
ein, gegen Außen zusammenzuhalten und schaarten sich enger um
den schwachen Stanislas; auch die Reform der Czartoryökis be¬
gann täglich mehr Anhänger zu zählen, bis endlich nach einem
Zeitraum von neunzehn Jahren die öffentliche Meinung von ganz
Polen einig wurde. Am 3. Mai 1791 ward unter dem Jubel all¬
gemeiner Begeisterung die neue Verfassung proclamirt, die sich auf
die Erblichkeit des Thrones, auf die Abschaffung des liberum ovo,
auf die Emancipation deö Bürgerstandes und die allmälige Be¬
freiung der Leibeigenen gründen sollte. Der Jubel vom 3. Mai
-- verherrlicht durch das bekannte Lied "Holder Mai, komm her¬
bei," welches auch bei uns in den Dreißiger Jahren viel gesungen
wurde -- dieser Jubel hat etwas Rührendes; wie der schwind¬
süchtige kurz vor dem Tode von baldiger Genesung träumt und
sich beseligt und wunderbar erleichtert fühlt, so glaubte die arme
polnische Nation mit dem dritten Mai auch den ersten Frühlings¬
tag ihrer Wiedergeburt zu feiern. Die beiden Fürsten Czartoryski
hatten diesen Triumph ihrer Bestrebungen nicht erlebt, aber der
Sohn August's, Fürst Adam Casimir, nahm ihre Stelle beim Land¬
tag ein.

Rußland sah in dieser Frucht polnischer Eintracht und Beson¬
nenheit einen neuen Grund, desto eifriger an seinen Minen zu ar-


Volkseigenthum absolutistisch ist, während es mit den Interessen sei¬
ner guten Freunde sehr liberal umgehen und in der Fremde auch
mit republikanischen, revolutionären und anarchischen Tendenzen
tactvoll fraternisiren kann. Beinahe kindlich unschuldig erscheint ge¬
gen diese Al'-loca jleich jene altfranzösische Politik des Tyrannenflü¬
gelmanns Ludwig's XIV, die in Deutschland mit Recht so verhaßt
ist. Den Sinn des deutschen Volkes empört die eine Treulosig¬
keit wie die andere; eine deutsche Politik muß loyaler verfahren.
Leider aber hat auch bei uns seit Jahrhunderten keine deutsche Po¬
litik geherrscht, sondern bald eine spanisch-italienische, bald eine alt¬
französische oder slavische, bald ein zwischen allen fremden Syste¬
men schwankender Eklekticismus, bei dem die löcherige Moral die
fremden Muster, und das tölpische Ungeschick die deutsche Nachah¬
mung verrieth.

Doch kehren wir zu unserem Thema zurück. Nach der ersten
Theilung Polens (1772) sahen die Partheien die Nothwendigkeit
ein, gegen Außen zusammenzuhalten und schaarten sich enger um
den schwachen Stanislas; auch die Reform der Czartoryökis be¬
gann täglich mehr Anhänger zu zählen, bis endlich nach einem
Zeitraum von neunzehn Jahren die öffentliche Meinung von ganz
Polen einig wurde. Am 3. Mai 1791 ward unter dem Jubel all¬
gemeiner Begeisterung die neue Verfassung proclamirt, die sich auf
die Erblichkeit des Thrones, auf die Abschaffung des liberum ovo,
auf die Emancipation deö Bürgerstandes und die allmälige Be¬
freiung der Leibeigenen gründen sollte. Der Jubel vom 3. Mai
— verherrlicht durch das bekannte Lied „Holder Mai, komm her¬
bei," welches auch bei uns in den Dreißiger Jahren viel gesungen
wurde — dieser Jubel hat etwas Rührendes; wie der schwind¬
süchtige kurz vor dem Tode von baldiger Genesung träumt und
sich beseligt und wunderbar erleichtert fühlt, so glaubte die arme
polnische Nation mit dem dritten Mai auch den ersten Frühlings¬
tag ihrer Wiedergeburt zu feiern. Die beiden Fürsten Czartoryski
hatten diesen Triumph ihrer Bestrebungen nicht erlebt, aber der
Sohn August's, Fürst Adam Casimir, nahm ihre Stelle beim Land¬
tag ein.

Rußland sah in dieser Frucht polnischer Eintracht und Beson¬
nenheit einen neuen Grund, desto eifriger an seinen Minen zu ar-


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[0350] Volkseigenthum absolutistisch ist, während es mit den Interessen sei¬ ner guten Freunde sehr liberal umgehen und in der Fremde auch mit republikanischen, revolutionären und anarchischen Tendenzen tactvoll fraternisiren kann. Beinahe kindlich unschuldig erscheint ge¬ gen diese Al'-loca jleich jene altfranzösische Politik des Tyrannenflü¬ gelmanns Ludwig's XIV, die in Deutschland mit Recht so verhaßt ist. Den Sinn des deutschen Volkes empört die eine Treulosig¬ keit wie die andere; eine deutsche Politik muß loyaler verfahren. Leider aber hat auch bei uns seit Jahrhunderten keine deutsche Po¬ litik geherrscht, sondern bald eine spanisch-italienische, bald eine alt¬ französische oder slavische, bald ein zwischen allen fremden Syste¬ men schwankender Eklekticismus, bei dem die löcherige Moral die fremden Muster, und das tölpische Ungeschick die deutsche Nachah¬ mung verrieth. Doch kehren wir zu unserem Thema zurück. Nach der ersten Theilung Polens (1772) sahen die Partheien die Nothwendigkeit ein, gegen Außen zusammenzuhalten und schaarten sich enger um den schwachen Stanislas; auch die Reform der Czartoryökis be¬ gann täglich mehr Anhänger zu zählen, bis endlich nach einem Zeitraum von neunzehn Jahren die öffentliche Meinung von ganz Polen einig wurde. Am 3. Mai 1791 ward unter dem Jubel all¬ gemeiner Begeisterung die neue Verfassung proclamirt, die sich auf die Erblichkeit des Thrones, auf die Abschaffung des liberum ovo, auf die Emancipation deö Bürgerstandes und die allmälige Be¬ freiung der Leibeigenen gründen sollte. Der Jubel vom 3. Mai — verherrlicht durch das bekannte Lied „Holder Mai, komm her¬ bei," welches auch bei uns in den Dreißiger Jahren viel gesungen wurde — dieser Jubel hat etwas Rührendes; wie der schwind¬ süchtige kurz vor dem Tode von baldiger Genesung träumt und sich beseligt und wunderbar erleichtert fühlt, so glaubte die arme polnische Nation mit dem dritten Mai auch den ersten Frühlings¬ tag ihrer Wiedergeburt zu feiern. Die beiden Fürsten Czartoryski hatten diesen Triumph ihrer Bestrebungen nicht erlebt, aber der Sohn August's, Fürst Adam Casimir, nahm ihre Stelle beim Land¬ tag ein. Rußland sah in dieser Frucht polnischer Eintracht und Beson¬ nenheit einen neuen Grund, desto eifriger an seinen Minen zu ar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/350>, abgerufen am 02.09.2024.