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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Cuvier hatte aber auch wie ein Weiser gelebt und um einer
solchen Masse riesenhafter Arbeiten zu genügen, seine Zeit mit be¬
wunderungswürdiger Oekonomie eingetheilt, E>- verlor keine Mi¬
nute, er las beim Frühstück und im Wagen; seine Arbeitszimmer,
seine Bücher und Instrumente waren geordnet, wie die Systeme
in seinem Kopfe; und in Allem was er that, herrschte eine so minu¬
tiöse Regelmäßigkeit, daß er noch Zeit genug ersparte, um neben
den großen Pflichten seines Berufs und seiner politischen Aemter
auch den kleinen Pflichten der Gesellschaft nachzukommen, um jede
Bittschrift zu lesen, die an ihn gerichtet wurde, jedes Manuskript
zu entziffern, welches jüngere Talente, die er stets ermunterte, ihm
vorzulegen pflegten, und endlich, um einen Tag wie den andern
seine neun Stunden zu schlafen. Darin war er ganz verschieden
von Alexander v. Humboldt, der seit einem Menschenalter täglich
nur vier Stunden schläft, also um eben so viel Stunden mehr lebt,
als die andern Sterblichen uiid sich dabei recht wohl befindet, so
daß er einmal im Scherz behauptet haben soll: er hoffe, man wer¬
de es, mit Hülfe der fortschreitenden Wissenschaften, noch dahin
bringen, daß Leute, die zu thun haben, gar nicht mehr würden zu
schlafen brauchen.

Die letzte Stunde seines Tages von II -12 Uhr Abends,
verbrachte er gewöhnlich bei Madame Cuvier, wo er sich ein Stück
ernster oder leichter, antiker oder moderner Literatur vorlesen ließ.
Cuvier hatte sich in seinem 34. Lebensjahre mit Madame Duvaucel
verheiratet, der Wittwe eines jener Gcneralpächter, denen der Wohl¬
fahrtsausschuß erst das Vermögen und dann den Kopf zu nehmen
liebte. Diese ausgezeichnete, vom Unglück geprüfte Dame hatte
ihm keine Schätze, aber eine Liebe, die an Anbetung grenzte, und
vier Kinder von ihrem ersten Manne mitgebracht, die ihn für sein
herbes Unglück als Vater trösteten; denn seine leiblichen vier Kin¬
der verlor Cuvier eines nach dem andern. Das letzte, ein reizen¬
des Mädchen von 22 Jahren, welches er außerordentlich liebte,
starb plötzlich einen Tag vor ihrer Verlobung. Diesen Schlag hat
Cuvier nie verschmerzen können.

In seiner Jugend mager und schwächlich, war Cuvier mit
den Jahren voll und stark geworden. Sein Gesicht mit der großen
Adlernase, den sanften blauen Augen und dem dichten Blond-


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Cuvier hatte aber auch wie ein Weiser gelebt und um einer
solchen Masse riesenhafter Arbeiten zu genügen, seine Zeit mit be¬
wunderungswürdiger Oekonomie eingetheilt, E>- verlor keine Mi¬
nute, er las beim Frühstück und im Wagen; seine Arbeitszimmer,
seine Bücher und Instrumente waren geordnet, wie die Systeme
in seinem Kopfe; und in Allem was er that, herrschte eine so minu¬
tiöse Regelmäßigkeit, daß er noch Zeit genug ersparte, um neben
den großen Pflichten seines Berufs und seiner politischen Aemter
auch den kleinen Pflichten der Gesellschaft nachzukommen, um jede
Bittschrift zu lesen, die an ihn gerichtet wurde, jedes Manuskript
zu entziffern, welches jüngere Talente, die er stets ermunterte, ihm
vorzulegen pflegten, und endlich, um einen Tag wie den andern
seine neun Stunden zu schlafen. Darin war er ganz verschieden
von Alexander v. Humboldt, der seit einem Menschenalter täglich
nur vier Stunden schläft, also um eben so viel Stunden mehr lebt,
als die andern Sterblichen uiid sich dabei recht wohl befindet, so
daß er einmal im Scherz behauptet haben soll: er hoffe, man wer¬
de es, mit Hülfe der fortschreitenden Wissenschaften, noch dahin
bringen, daß Leute, die zu thun haben, gar nicht mehr würden zu
schlafen brauchen.

Die letzte Stunde seines Tages von II -12 Uhr Abends,
verbrachte er gewöhnlich bei Madame Cuvier, wo er sich ein Stück
ernster oder leichter, antiker oder moderner Literatur vorlesen ließ.
Cuvier hatte sich in seinem 34. Lebensjahre mit Madame Duvaucel
verheiratet, der Wittwe eines jener Gcneralpächter, denen der Wohl¬
fahrtsausschuß erst das Vermögen und dann den Kopf zu nehmen
liebte. Diese ausgezeichnete, vom Unglück geprüfte Dame hatte
ihm keine Schätze, aber eine Liebe, die an Anbetung grenzte, und
vier Kinder von ihrem ersten Manne mitgebracht, die ihn für sein
herbes Unglück als Vater trösteten; denn seine leiblichen vier Kin¬
der verlor Cuvier eines nach dem andern. Das letzte, ein reizen¬
des Mädchen von 22 Jahren, welches er außerordentlich liebte,
starb plötzlich einen Tag vor ihrer Verlobung. Diesen Schlag hat
Cuvier nie verschmerzen können.

In seiner Jugend mager und schwächlich, war Cuvier mit
den Jahren voll und stark geworden. Sein Gesicht mit der großen
Adlernase, den sanften blauen Augen und dem dichten Blond-


39*
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[0315] Cuvier hatte aber auch wie ein Weiser gelebt und um einer solchen Masse riesenhafter Arbeiten zu genügen, seine Zeit mit be¬ wunderungswürdiger Oekonomie eingetheilt, E>- verlor keine Mi¬ nute, er las beim Frühstück und im Wagen; seine Arbeitszimmer, seine Bücher und Instrumente waren geordnet, wie die Systeme in seinem Kopfe; und in Allem was er that, herrschte eine so minu¬ tiöse Regelmäßigkeit, daß er noch Zeit genug ersparte, um neben den großen Pflichten seines Berufs und seiner politischen Aemter auch den kleinen Pflichten der Gesellschaft nachzukommen, um jede Bittschrift zu lesen, die an ihn gerichtet wurde, jedes Manuskript zu entziffern, welches jüngere Talente, die er stets ermunterte, ihm vorzulegen pflegten, und endlich, um einen Tag wie den andern seine neun Stunden zu schlafen. Darin war er ganz verschieden von Alexander v. Humboldt, der seit einem Menschenalter täglich nur vier Stunden schläft, also um eben so viel Stunden mehr lebt, als die andern Sterblichen uiid sich dabei recht wohl befindet, so daß er einmal im Scherz behauptet haben soll: er hoffe, man wer¬ de es, mit Hülfe der fortschreitenden Wissenschaften, noch dahin bringen, daß Leute, die zu thun haben, gar nicht mehr würden zu schlafen brauchen. Die letzte Stunde seines Tages von II -12 Uhr Abends, verbrachte er gewöhnlich bei Madame Cuvier, wo er sich ein Stück ernster oder leichter, antiker oder moderner Literatur vorlesen ließ. Cuvier hatte sich in seinem 34. Lebensjahre mit Madame Duvaucel verheiratet, der Wittwe eines jener Gcneralpächter, denen der Wohl¬ fahrtsausschuß erst das Vermögen und dann den Kopf zu nehmen liebte. Diese ausgezeichnete, vom Unglück geprüfte Dame hatte ihm keine Schätze, aber eine Liebe, die an Anbetung grenzte, und vier Kinder von ihrem ersten Manne mitgebracht, die ihn für sein herbes Unglück als Vater trösteten; denn seine leiblichen vier Kin¬ der verlor Cuvier eines nach dem andern. Das letzte, ein reizen¬ des Mädchen von 22 Jahren, welches er außerordentlich liebte, starb plötzlich einen Tag vor ihrer Verlobung. Diesen Schlag hat Cuvier nie verschmerzen können. In seiner Jugend mager und schwächlich, war Cuvier mit den Jahren voll und stark geworden. Sein Gesicht mit der großen Adlernase, den sanften blauen Augen und dem dichten Blond- 39*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/315>, abgerufen am 02.09.2024.