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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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an anderem Orte that. Will man der dramatischen Kunst und
mittelbar dem ästhetischen Sinn des Volkes förderlich sein, so ist
am wenigsten die Auferweckung solcher Theaterstücke, welche in ei¬
ner einseitigen, der Vergänglichkeit und Vergangenheit gehörenden
Richtung geschrieben wurden, der Weg dazu. Der lebendige Irr¬
thum der Gegenwart hat, wenn er mit Talent oder Geist vertre¬
ten wird, seine Rechte auf Berücksichtigung, denn er steht mitten
im unbecndcten Kampfe, er bildet eine nothwendige Seite im dia¬
lektischen Gebärungs-Proceß eines neuen Fortschritts. Nicht so
der todte Irrthum der Vergangenheit, den die Geschichte bereits
im Bewußtsein der Menschen gerichtet hat. Als er auftrat, ein
neu geborener, da hatte er ein Recht zu fordern, daß ihm eine
Stimme auf dein Kampfplatz, heiße dieser Wissenschaft oder Kunst,
gestattet werde, daß man auch ihm die Wege offne, um zu Ohr,
Sinn und Geist des Volkes zu gelangen, damit dieses zum Theil,
soweit es in gleichem Irrthum befangen, ihm den Zoll der Spanne
Zeit entrichte, welche sein Leben bedingt, zum Theil, soweit es in
entgegengesetzter Richtung, Meinung und Gesinnung befangen, den
Kampf gegen ihn beginne. So allein bildet sich in geistigen Din¬
gen auf ungestört organischem Wege das Urtheil der Geschichte,
das unwiderruflich ist, nachdem es gesprochen. Wer daher ein
Schätzer und Pfleger der Kunst heißen will,, der hat sich zur
Aufgabe zu stellen, der Vergangenheit nur das zu entlehnen,
was die Krone der Unvergänglichkeit im Tempel der Schönheit
empfangen, die Gegenwart aber in allen ihren bestimmten und
verschiedensten Geistes-Richtungen in die unbeschränkte Oeffent-
lichkeit zu fordern und unverkümmert dem Richterspruch der Le¬
benden zu unterwerfen. So allein, wenn man eine ästhetisch ge¬
bildete Kritik, Hand in Hand mit dem öffentlichen Urtheil des
Volks und der Zeit, über dem Vergangenen, die volle, frische,
parteilose Liebe über dein neu aus dem Leben der Gegenwart
Entstehenden walten läßt, erringt man mit Recht den Titel eines
einsichtsvollen Beschützers der Kunst.

Gesetzt nun, auch dieser zweite Wunsch würde uns gewährt
gleich dem ersten. Die Intendanzen besäßen die erforderliche In¬
telligenz, das erforderliche Kunstverständnis^, um ihre Zeit und'


an anderem Orte that. Will man der dramatischen Kunst und
mittelbar dem ästhetischen Sinn des Volkes förderlich sein, so ist
am wenigsten die Auferweckung solcher Theaterstücke, welche in ei¬
ner einseitigen, der Vergänglichkeit und Vergangenheit gehörenden
Richtung geschrieben wurden, der Weg dazu. Der lebendige Irr¬
thum der Gegenwart hat, wenn er mit Talent oder Geist vertre¬
ten wird, seine Rechte auf Berücksichtigung, denn er steht mitten
im unbecndcten Kampfe, er bildet eine nothwendige Seite im dia¬
lektischen Gebärungs-Proceß eines neuen Fortschritts. Nicht so
der todte Irrthum der Vergangenheit, den die Geschichte bereits
im Bewußtsein der Menschen gerichtet hat. Als er auftrat, ein
neu geborener, da hatte er ein Recht zu fordern, daß ihm eine
Stimme auf dein Kampfplatz, heiße dieser Wissenschaft oder Kunst,
gestattet werde, daß man auch ihm die Wege offne, um zu Ohr,
Sinn und Geist des Volkes zu gelangen, damit dieses zum Theil,
soweit es in gleichem Irrthum befangen, ihm den Zoll der Spanne
Zeit entrichte, welche sein Leben bedingt, zum Theil, soweit es in
entgegengesetzter Richtung, Meinung und Gesinnung befangen, den
Kampf gegen ihn beginne. So allein bildet sich in geistigen Din¬
gen auf ungestört organischem Wege das Urtheil der Geschichte,
das unwiderruflich ist, nachdem es gesprochen. Wer daher ein
Schätzer und Pfleger der Kunst heißen will,, der hat sich zur
Aufgabe zu stellen, der Vergangenheit nur das zu entlehnen,
was die Krone der Unvergänglichkeit im Tempel der Schönheit
empfangen, die Gegenwart aber in allen ihren bestimmten und
verschiedensten Geistes-Richtungen in die unbeschränkte Oeffent-
lichkeit zu fordern und unverkümmert dem Richterspruch der Le¬
benden zu unterwerfen. So allein, wenn man eine ästhetisch ge¬
bildete Kritik, Hand in Hand mit dem öffentlichen Urtheil des
Volks und der Zeit, über dem Vergangenen, die volle, frische,
parteilose Liebe über dein neu aus dem Leben der Gegenwart
Entstehenden walten läßt, erringt man mit Recht den Titel eines
einsichtsvollen Beschützers der Kunst.

Gesetzt nun, auch dieser zweite Wunsch würde uns gewährt
gleich dem ersten. Die Intendanzen besäßen die erforderliche In¬
telligenz, das erforderliche Kunstverständnis^, um ihre Zeit und'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/178>, abgerufen am 06.10.2024.