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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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vor dem Geiste der neuen Zeit. Man scheint es noch immer für
eine Entweihung zu halten, daß z. B. ein König auf die Bühne
gebracht werde, und doch ist so mancher König erst durch die dra¬
matische Poesie zu einem ewigen Leben gekommen! Freilich kann
die Poesie nicht nach Art Derjenigen verfahren, welche jeden König
als einen Gottgesalbten, als unfehlbar und makelfrei hinstellen
möchten, sie darf, wenn sie ein Charakter-Gemälde liefern will, die
Schwächen eben so wenig verschweigen als die Vorzüge. Sagt
nicht aber auch die Geschichte dasselbe? Läßt das Urtheil der Ge¬
schichte sich erkaufen? Es kann wohl keinem erleuchteten Herr¬
scher des neunzehnten Jahrhunderts mehr einfallen, die Geschichte
als von der Königsmacht abhängig zu betrachten, noch weniger
aber zu verläugnen, daß auch seine Vorfahren keine Götter, son¬
dern eben Menschen waren, wie wir Alle sind. -- Wozu also dieser
Schleier über das Leben derselben, der auf anderem Gebiete längst
gelüstet worden, wozu dieses Leichentuch vor die Coulissen ge¬
hängt? -- Wie weit erstreckt sich die Verwandtschaft herrschender
Dynastieen? Preußens Königshaus z. B. ist verwandt mit Mek-
lenburg, Meklenburg wurde es durch die jetzige Herzogin von Or¬
leans mit dem Königshause Frankreichs. Dürfen Frankreichs Kö¬
nige noch auf preußischen Bühnen erscheinen, oder wo liegt hier
die Grenze der für das Theater geeigneten Verwandtschaft? Das
Gesetz ist auf einen Rechtsboden gar nicht zu stellen, öffnet der
Willkür Thür und Thor, und kann, in Verbindung mit der Furcht
vor den Gedanken der Neuzeit, die man vom Theater fern halten
will, nach Belieben leicht alle deutschen Stücke von deutschen Büh¬
nen ausschließen. Diese Furcht vor oder Abneigung gegen dieje¬
nigen geistigen Richtungen, welche der Gegenwart als ihr eigen¬
thümlichste angehören, und innerhalb deren jeder Schriftsteller von
Bedeutung sich bewegt, weil er ein Kind seiner Zeit, führt dazu,
daß man den besseren Werken die Aufführung versagt, dagegen aus
längst untergegangenen Richtungen Veraltetes hervorsucht, um das
Abgestorbene und Todte mit fruchtlosen Anstrengungen zu einem
Scheinleben zu erwecken. Das aber gerade ist eine tief verletzende
Verhöhnung der Gegenwart und muß den Verfall der Kunst be¬
schleunigen. Ich komme hier auf einen Ausspruch zurück, den ich


Grcnzl'öde", 1840. I. 22

vor dem Geiste der neuen Zeit. Man scheint es noch immer für
eine Entweihung zu halten, daß z. B. ein König auf die Bühne
gebracht werde, und doch ist so mancher König erst durch die dra¬
matische Poesie zu einem ewigen Leben gekommen! Freilich kann
die Poesie nicht nach Art Derjenigen verfahren, welche jeden König
als einen Gottgesalbten, als unfehlbar und makelfrei hinstellen
möchten, sie darf, wenn sie ein Charakter-Gemälde liefern will, die
Schwächen eben so wenig verschweigen als die Vorzüge. Sagt
nicht aber auch die Geschichte dasselbe? Läßt das Urtheil der Ge¬
schichte sich erkaufen? Es kann wohl keinem erleuchteten Herr¬
scher des neunzehnten Jahrhunderts mehr einfallen, die Geschichte
als von der Königsmacht abhängig zu betrachten, noch weniger
aber zu verläugnen, daß auch seine Vorfahren keine Götter, son¬
dern eben Menschen waren, wie wir Alle sind. — Wozu also dieser
Schleier über das Leben derselben, der auf anderem Gebiete längst
gelüstet worden, wozu dieses Leichentuch vor die Coulissen ge¬
hängt? — Wie weit erstreckt sich die Verwandtschaft herrschender
Dynastieen? Preußens Königshaus z. B. ist verwandt mit Mek-
lenburg, Meklenburg wurde es durch die jetzige Herzogin von Or¬
leans mit dem Königshause Frankreichs. Dürfen Frankreichs Kö¬
nige noch auf preußischen Bühnen erscheinen, oder wo liegt hier
die Grenze der für das Theater geeigneten Verwandtschaft? Das
Gesetz ist auf einen Rechtsboden gar nicht zu stellen, öffnet der
Willkür Thür und Thor, und kann, in Verbindung mit der Furcht
vor den Gedanken der Neuzeit, die man vom Theater fern halten
will, nach Belieben leicht alle deutschen Stücke von deutschen Büh¬
nen ausschließen. Diese Furcht vor oder Abneigung gegen dieje¬
nigen geistigen Richtungen, welche der Gegenwart als ihr eigen¬
thümlichste angehören, und innerhalb deren jeder Schriftsteller von
Bedeutung sich bewegt, weil er ein Kind seiner Zeit, führt dazu,
daß man den besseren Werken die Aufführung versagt, dagegen aus
längst untergegangenen Richtungen Veraltetes hervorsucht, um das
Abgestorbene und Todte mit fruchtlosen Anstrengungen zu einem
Scheinleben zu erwecken. Das aber gerade ist eine tief verletzende
Verhöhnung der Gegenwart und muß den Verfall der Kunst be¬
schleunigen. Ich komme hier auf einen Ausspruch zurück, den ich


Grcnzl'öde», 1840. I. 22
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[0177] vor dem Geiste der neuen Zeit. Man scheint es noch immer für eine Entweihung zu halten, daß z. B. ein König auf die Bühne gebracht werde, und doch ist so mancher König erst durch die dra¬ matische Poesie zu einem ewigen Leben gekommen! Freilich kann die Poesie nicht nach Art Derjenigen verfahren, welche jeden König als einen Gottgesalbten, als unfehlbar und makelfrei hinstellen möchten, sie darf, wenn sie ein Charakter-Gemälde liefern will, die Schwächen eben so wenig verschweigen als die Vorzüge. Sagt nicht aber auch die Geschichte dasselbe? Läßt das Urtheil der Ge¬ schichte sich erkaufen? Es kann wohl keinem erleuchteten Herr¬ scher des neunzehnten Jahrhunderts mehr einfallen, die Geschichte als von der Königsmacht abhängig zu betrachten, noch weniger aber zu verläugnen, daß auch seine Vorfahren keine Götter, son¬ dern eben Menschen waren, wie wir Alle sind. — Wozu also dieser Schleier über das Leben derselben, der auf anderem Gebiete längst gelüstet worden, wozu dieses Leichentuch vor die Coulissen ge¬ hängt? — Wie weit erstreckt sich die Verwandtschaft herrschender Dynastieen? Preußens Königshaus z. B. ist verwandt mit Mek- lenburg, Meklenburg wurde es durch die jetzige Herzogin von Or¬ leans mit dem Königshause Frankreichs. Dürfen Frankreichs Kö¬ nige noch auf preußischen Bühnen erscheinen, oder wo liegt hier die Grenze der für das Theater geeigneten Verwandtschaft? Das Gesetz ist auf einen Rechtsboden gar nicht zu stellen, öffnet der Willkür Thür und Thor, und kann, in Verbindung mit der Furcht vor den Gedanken der Neuzeit, die man vom Theater fern halten will, nach Belieben leicht alle deutschen Stücke von deutschen Büh¬ nen ausschließen. Diese Furcht vor oder Abneigung gegen dieje¬ nigen geistigen Richtungen, welche der Gegenwart als ihr eigen¬ thümlichste angehören, und innerhalb deren jeder Schriftsteller von Bedeutung sich bewegt, weil er ein Kind seiner Zeit, führt dazu, daß man den besseren Werken die Aufführung versagt, dagegen aus längst untergegangenen Richtungen Veraltetes hervorsucht, um das Abgestorbene und Todte mit fruchtlosen Anstrengungen zu einem Scheinleben zu erwecken. Das aber gerade ist eine tief verletzende Verhöhnung der Gegenwart und muß den Verfall der Kunst be¬ schleunigen. Ich komme hier auf einen Ausspruch zurück, den ich Grcnzl'öde», 1840. I. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/177>, abgerufen am 01.09.2024.