Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.den", für "erschollen; wie Gespenster zogen diese Namen durch die den", für »erschollen; wie Gespenster zogen diese Namen durch die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0094" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/271355"/> <p xml:id="ID_221" prev="#ID_220" next="#ID_222"> den", für »erschollen; wie Gespenster zogen diese Namen durch die<lb/> Hörsäle, die Studenten lächelten vornehm über den kahlen, dürren,<lb/> hauSbacknen Rationalismus; der Pietismus dünkte ihnen eine Lieb¬<lb/> haberei mordsüchtiger Geister; die Pietisten freuten sich, daß der Phi¬<lb/> losoph ihnen in Verachtung des Rationalismus zu Hilf« kam, und<lb/> nannten diesen Rationalismus „abgestanden"; die Rationalisten demum<lb/> cirten den Pietismus als Geistesgesundheitmörderisch, Familienglückzerstöre-<lb/> risch, versteckten sich aber mit dem allen in einige dunkle Zeitschriften<lb/> und schlechte Romane. Das Volk, die Masse der Laien bekümmerte<lb/> sich um diese Dinge beinahe gar nicht. Wer, außer den Conventikel-<lb/> lcuten, oder — wie sie sich selbst nannten — „Wiedergeborenen",<lb/> „zum Durchbruch gekommen", fragte im Geringsten etwas nach der<lb/> evangelischen Kirchenzeitung? Jetzt ist das alles anders geworden. Auf<lb/> einmal hieß es.- der Pietismus ist zur Herrschaft gekommen, d. h. zur<lb/> politischen Herrschaft, zum Regiment?, zu Macht, Ehren und Einfluß<lb/> im Staate. Hui! wie lodert nun die Kampflust, die Kampfwuth auf!<lb/> Die religiösen Parteien hatten ihr Wesen in der Stille getrieben, jede<lb/> in ihrem Kreise. Jetzt fühlten sie sich plötzlich durch Maßregeln der<lb/> Behörden beengt, oder fürchteten wenigstens Beengung, sonderlich wenn<lb/> nun von der pietistischen Seite Denunciationen erfolgten, die unter<lb/> den dermaligen Umständen Folgen haben konnten. Das religiöse In¬<lb/> teresse des gesammten Publikums kommt den Regungen und Bestre¬<lb/> bungen der kirchlichen Parteien entgegen, und verleiht ihnen Bedeu¬<lb/> tung. Die plötzliche Belebung dieses Interesses ist begreiflich. Seit<lb/> hundert Jahren ist die Kritik cillmählig immer selbstständiger und im¬<lb/> mer kühner geworden. Schon in der Reformationszeit hatte sich das<lb/> Recht der Prüfung so lebhaft geltend gemacht, daß der einmal gegebene<lb/> Anstoß nicht wirkungslos bleiben konnte, obgleich das Prüfen damals<lb/> bald ein Ende hatte, als man mit dem, was die Zeit forderte, auf's<lb/> Reine gekommen war. Die kirchlichen Verhältnisse stellten sich bald<lb/> fest, und die Prüfung fand ihre Schranken an dem Dogma. Spä¬<lb/> ter drang sie von außen, von Seiten der Philosophie her wieder in<lb/> die Theologie ein. Schon einmal hat das Denken im 18. Jahrhun¬<lb/> dert alle Grundlagen der Religiosität erschüttert, aber der Boden, in<lb/> welchen diese Grundlagen eingesenkt waren, hielt den Stoß aus: die<lb/> Theologie hielt sich in ungebrochener Kraft. Seitdem wühlten aber die<lb/> Flammen der Kritik in den Eingeweiden auch der Theologie und un¬<lb/> tergruben das Bollwerk, welches für sie in der evangelischen Kirche das<lb/> einzige ist, die Autorität der heil. Schrift selbst. Mit Entsetzen ge¬<lb/> wahrten Unzählige, die im guten Vertrauen der freien Wissenschaft<lb/> jeden Spielraum gelassen hatten, daß diese se^x Wissenschaft ihnen<lb/> nichts Geringeres zu entreißen drohte, als das — Heiligste und Höchste,<lb/> wie der Mensch immer die ihm für fest und ewig geltenden Vorstel¬<lb/> lungen, welche es auch seien, nennt. So stürzt nun Alles herbei und</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0094]
den", für »erschollen; wie Gespenster zogen diese Namen durch die
Hörsäle, die Studenten lächelten vornehm über den kahlen, dürren,
hauSbacknen Rationalismus; der Pietismus dünkte ihnen eine Lieb¬
haberei mordsüchtiger Geister; die Pietisten freuten sich, daß der Phi¬
losoph ihnen in Verachtung des Rationalismus zu Hilf« kam, und
nannten diesen Rationalismus „abgestanden"; die Rationalisten demum
cirten den Pietismus als Geistesgesundheitmörderisch, Familienglückzerstöre-
risch, versteckten sich aber mit dem allen in einige dunkle Zeitschriften
und schlechte Romane. Das Volk, die Masse der Laien bekümmerte
sich um diese Dinge beinahe gar nicht. Wer, außer den Conventikel-
lcuten, oder — wie sie sich selbst nannten — „Wiedergeborenen",
„zum Durchbruch gekommen", fragte im Geringsten etwas nach der
evangelischen Kirchenzeitung? Jetzt ist das alles anders geworden. Auf
einmal hieß es.- der Pietismus ist zur Herrschaft gekommen, d. h. zur
politischen Herrschaft, zum Regiment?, zu Macht, Ehren und Einfluß
im Staate. Hui! wie lodert nun die Kampflust, die Kampfwuth auf!
Die religiösen Parteien hatten ihr Wesen in der Stille getrieben, jede
in ihrem Kreise. Jetzt fühlten sie sich plötzlich durch Maßregeln der
Behörden beengt, oder fürchteten wenigstens Beengung, sonderlich wenn
nun von der pietistischen Seite Denunciationen erfolgten, die unter
den dermaligen Umständen Folgen haben konnten. Das religiöse In¬
teresse des gesammten Publikums kommt den Regungen und Bestre¬
bungen der kirchlichen Parteien entgegen, und verleiht ihnen Bedeu¬
tung. Die plötzliche Belebung dieses Interesses ist begreiflich. Seit
hundert Jahren ist die Kritik cillmählig immer selbstständiger und im¬
mer kühner geworden. Schon in der Reformationszeit hatte sich das
Recht der Prüfung so lebhaft geltend gemacht, daß der einmal gegebene
Anstoß nicht wirkungslos bleiben konnte, obgleich das Prüfen damals
bald ein Ende hatte, als man mit dem, was die Zeit forderte, auf's
Reine gekommen war. Die kirchlichen Verhältnisse stellten sich bald
fest, und die Prüfung fand ihre Schranken an dem Dogma. Spä¬
ter drang sie von außen, von Seiten der Philosophie her wieder in
die Theologie ein. Schon einmal hat das Denken im 18. Jahrhun¬
dert alle Grundlagen der Religiosität erschüttert, aber der Boden, in
welchen diese Grundlagen eingesenkt waren, hielt den Stoß aus: die
Theologie hielt sich in ungebrochener Kraft. Seitdem wühlten aber die
Flammen der Kritik in den Eingeweiden auch der Theologie und un¬
tergruben das Bollwerk, welches für sie in der evangelischen Kirche das
einzige ist, die Autorität der heil. Schrift selbst. Mit Entsetzen ge¬
wahrten Unzählige, die im guten Vertrauen der freien Wissenschaft
jeden Spielraum gelassen hatten, daß diese se^x Wissenschaft ihnen
nichts Geringeres zu entreißen drohte, als das — Heiligste und Höchste,
wie der Mensch immer die ihm für fest und ewig geltenden Vorstel¬
lungen, welche es auch seien, nennt. So stürzt nun Alles herbei und
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |