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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Natur in ihm hervor, und unwillkürlich fängt er an, Vlämisch zu
reden. Aber wenn er seinen Geist befriedigen, wenn er von den
Resultaten der Wissenschaft und den Früchten einer höheren Cultur
genießen will, da hat er die unselige Gewohnheit, eine ganz fremde
Sprache zu wählen; eine Sprache, die zwar seinem Witze und Ver¬
stände genugthun, aber sein Herz nicht sättigen und den Durst sei¬
nes Gemüthes nicht löschen kann; die seiner Einbildungskraft nur
matte Farben und seiner Phantasie, statt der Flügel, armselige Krücken
leiht. Denn die Seele des Französischen stammt aus einer Natur,
die der germanischen entgegengesetzt ist; da ist eine andere Denkweise,
anderes Gefühl und anderer Charakter. Und doch, wer zwingt den
Vlamen, bei dem Fremdlinge sich zu Gaste zu laden? Die goldenen
Schätze der hochdeutschen Literatur sind auch für ihn bestimmt. Der
Vläme ist kein Ausländer auf dem deutschen Helikon und er lernt
das Hochdeutsche eben so bald und leicht verstehen, wie irgend ein
Niederdeutscher aus Holstein oder Fliesland, der bis in sein zwan¬
zigstes Jahr nur den Dialekt seines Dorfes sprach. Der Vläme
geht am Hause seines Bruders vorbei, ohne es zu wissen; das Thor
ist ihm weit aufgethan und er würde mit offenen Armen empfangen
werden, aber er weiß es nicht und geht vorbet, um an die fremde
verschlossene Thür zu pochen.

Kommen wir auf unser Thema zurück. Die Verschiedenheit in
dem Charakter der nieder- und oberdeutschen Volksdialekte äußert
sich auch in der nieder- und oberdeutschen Volkspoesie. Jene ist
voll von ergötzlichen Spaße, von einer gesunden Komik und frischen
Satyre; der niederdeutsche Geist versteht eS, wie die niederländische
Malerei, die Wirklichkeit mit seist- und kraftvollen Farben, mit siche¬
rem Auge und treuem Griffel wiederzugeben; wie in der Kunst das
Plastische, so ist in der Literatur das Dramatische seine Sache. Als
Beweis dienen die Possen und Komödien der Hamburger und Ber¬
liner Volkstheater, und die witzigen Impromptus der Kölner Car-
navals. Die Wiener Volksstücke von Raimund und Nestroi haben
schon eine andere Färbung. Im Allgemeinen neigen die oberdeut¬
schen Volksdialekte sich mehr zur Lyrik; reizende Naivetät, zarte Em¬
pfindung und feurige Phantasie, das sind ihre Vorzüge. Der Sü¬
den Deutschlands hat eine liebliche Flora von Volksliedern; täglich
entstehen sie zu Hunderten in den Thälern Tyrols, Oberösterretchö,


Natur in ihm hervor, und unwillkürlich fängt er an, Vlämisch zu
reden. Aber wenn er seinen Geist befriedigen, wenn er von den
Resultaten der Wissenschaft und den Früchten einer höheren Cultur
genießen will, da hat er die unselige Gewohnheit, eine ganz fremde
Sprache zu wählen; eine Sprache, die zwar seinem Witze und Ver¬
stände genugthun, aber sein Herz nicht sättigen und den Durst sei¬
nes Gemüthes nicht löschen kann; die seiner Einbildungskraft nur
matte Farben und seiner Phantasie, statt der Flügel, armselige Krücken
leiht. Denn die Seele des Französischen stammt aus einer Natur,
die der germanischen entgegengesetzt ist; da ist eine andere Denkweise,
anderes Gefühl und anderer Charakter. Und doch, wer zwingt den
Vlamen, bei dem Fremdlinge sich zu Gaste zu laden? Die goldenen
Schätze der hochdeutschen Literatur sind auch für ihn bestimmt. Der
Vläme ist kein Ausländer auf dem deutschen Helikon und er lernt
das Hochdeutsche eben so bald und leicht verstehen, wie irgend ein
Niederdeutscher aus Holstein oder Fliesland, der bis in sein zwan¬
zigstes Jahr nur den Dialekt seines Dorfes sprach. Der Vläme
geht am Hause seines Bruders vorbei, ohne es zu wissen; das Thor
ist ihm weit aufgethan und er würde mit offenen Armen empfangen
werden, aber er weiß es nicht und geht vorbet, um an die fremde
verschlossene Thür zu pochen.

Kommen wir auf unser Thema zurück. Die Verschiedenheit in
dem Charakter der nieder- und oberdeutschen Volksdialekte äußert
sich auch in der nieder- und oberdeutschen Volkspoesie. Jene ist
voll von ergötzlichen Spaße, von einer gesunden Komik und frischen
Satyre; der niederdeutsche Geist versteht eS, wie die niederländische
Malerei, die Wirklichkeit mit seist- und kraftvollen Farben, mit siche¬
rem Auge und treuem Griffel wiederzugeben; wie in der Kunst das
Plastische, so ist in der Literatur das Dramatische seine Sache. Als
Beweis dienen die Possen und Komödien der Hamburger und Ber¬
liner Volkstheater, und die witzigen Impromptus der Kölner Car-
navals. Die Wiener Volksstücke von Raimund und Nestroi haben
schon eine andere Färbung. Im Allgemeinen neigen die oberdeut¬
schen Volksdialekte sich mehr zur Lyrik; reizende Naivetät, zarte Em¬
pfindung und feurige Phantasie, das sind ihre Vorzüge. Der Sü¬
den Deutschlands hat eine liebliche Flora von Volksliedern; täglich
entstehen sie zu Hunderten in den Thälern Tyrols, Oberösterretchö,


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[0532] Natur in ihm hervor, und unwillkürlich fängt er an, Vlämisch zu reden. Aber wenn er seinen Geist befriedigen, wenn er von den Resultaten der Wissenschaft und den Früchten einer höheren Cultur genießen will, da hat er die unselige Gewohnheit, eine ganz fremde Sprache zu wählen; eine Sprache, die zwar seinem Witze und Ver¬ stände genugthun, aber sein Herz nicht sättigen und den Durst sei¬ nes Gemüthes nicht löschen kann; die seiner Einbildungskraft nur matte Farben und seiner Phantasie, statt der Flügel, armselige Krücken leiht. Denn die Seele des Französischen stammt aus einer Natur, die der germanischen entgegengesetzt ist; da ist eine andere Denkweise, anderes Gefühl und anderer Charakter. Und doch, wer zwingt den Vlamen, bei dem Fremdlinge sich zu Gaste zu laden? Die goldenen Schätze der hochdeutschen Literatur sind auch für ihn bestimmt. Der Vläme ist kein Ausländer auf dem deutschen Helikon und er lernt das Hochdeutsche eben so bald und leicht verstehen, wie irgend ein Niederdeutscher aus Holstein oder Fliesland, der bis in sein zwan¬ zigstes Jahr nur den Dialekt seines Dorfes sprach. Der Vläme geht am Hause seines Bruders vorbei, ohne es zu wissen; das Thor ist ihm weit aufgethan und er würde mit offenen Armen empfangen werden, aber er weiß es nicht und geht vorbet, um an die fremde verschlossene Thür zu pochen. Kommen wir auf unser Thema zurück. Die Verschiedenheit in dem Charakter der nieder- und oberdeutschen Volksdialekte äußert sich auch in der nieder- und oberdeutschen Volkspoesie. Jene ist voll von ergötzlichen Spaße, von einer gesunden Komik und frischen Satyre; der niederdeutsche Geist versteht eS, wie die niederländische Malerei, die Wirklichkeit mit seist- und kraftvollen Farben, mit siche¬ rem Auge und treuem Griffel wiederzugeben; wie in der Kunst das Plastische, so ist in der Literatur das Dramatische seine Sache. Als Beweis dienen die Possen und Komödien der Hamburger und Ber¬ liner Volkstheater, und die witzigen Impromptus der Kölner Car- navals. Die Wiener Volksstücke von Raimund und Nestroi haben schon eine andere Färbung. Im Allgemeinen neigen die oberdeut¬ schen Volksdialekte sich mehr zur Lyrik; reizende Naivetät, zarte Em¬ pfindung und feurige Phantasie, das sind ihre Vorzüge. Der Sü¬ den Deutschlands hat eine liebliche Flora von Volksliedern; täglich entstehen sie zu Hunderten in den Thälern Tyrols, Oberösterretchö,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/532>, abgerufen am 10.02.2025.