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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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das erclufive System der muselmännischen Lebensordnung auf's Haupt.
Ferner kündigt der Hattischerif ein strenges Gesetz gegen den Aemter-
und Stellenhandel an, den ebenfalls "die heilige Schrift verbiete"
und der vorzugsweise Schuld sei am Verfalle des Reiches, und nach¬
dem er zur Berathschlagung und Feststellung der übrigen Punkte eine
Art gesetzgebender Versammlung angekündigt, die aus den Ministern
und Notabeln des Reiches bestehen, an gewissen Tagen zusammen¬
kommen, und wo Jeder frei seine Meinung äußern soll, schließt er
mit der folgenden originellen Strafbestimmung: "Diejenigen aber,
welche diesen Institutionen entgegenhandeln werden, soll der Fluch
Gottes treffen, und mögen sie unglücklich sein ihr Leben lang"

Das ist der Hattischerif von Gul-Han6, und das hat man bei
uns einen ohnmächtigen Nachdruck der französischen Charte nennen
wollen, vermuthlich nur, um der letzteren ein Kompliment zu machen.
Nein, der Hattischerif ist keine Charte und will keine sein; in diesen
einfachen Verordnungen, die sich auf die natürlichsten Forderungen
des gemeinen Verstandes stützen, ist Nichts von dem künstlichen Bau
einer constitutionellen Staatsmaschine; es ist Nichts als das ABC
einer gesellschaftlichen Ordnung, und nur die Form, in welcher der
Sultan seinen Unterthanen Garantien gibt, die sie bisher nicht be¬
sessen, erinnert an unsere octroyirten Staatsgrundgesetze. Das Oc-
troyiren aber ist echt orientalisch, echt patriarchalisch und eben darum
in Constantinopel besser an seinem Platze, als in Hannover oder
Baden,- als in München oder Berlin. Die feierliche Proklamation
des Hattischerifö aber, in der man die comödiantenhafte Declama-
tionssucht des französirten Reschid zu erkennen meinte, hatte ihren
guten politischen Grund, und war nach gewissen Seiten hin eine
Demonstration, die bet der kritischen Lage der Pforte nothwendig
und heilsam war.

Der einzige Vorwurf, den man dem Hattischerif von Gut-Haro
machen kann, ist der, daß eS so schwer ist, ihn zu verwirklichen;
daran ist aber nicht seine Tendenz Schuld, sondern die Lage der
Dinge. Dadurch wird der Hattischerif zu einem bloßen Programm,
zu einer öffentlichen Beichte und einer Proklamation guter Vor¬
sätze ... Mit guten Vorsätzen aber, sagt das Sprichwort, ist die
Hölle gepflastert.

Reschid selbst jedoch muß man die Gerechtigkeit widerfahren


das erclufive System der muselmännischen Lebensordnung auf's Haupt.
Ferner kündigt der Hattischerif ein strenges Gesetz gegen den Aemter-
und Stellenhandel an, den ebenfalls „die heilige Schrift verbiete"
und der vorzugsweise Schuld sei am Verfalle des Reiches, und nach¬
dem er zur Berathschlagung und Feststellung der übrigen Punkte eine
Art gesetzgebender Versammlung angekündigt, die aus den Ministern
und Notabeln des Reiches bestehen, an gewissen Tagen zusammen¬
kommen, und wo Jeder frei seine Meinung äußern soll, schließt er
mit der folgenden originellen Strafbestimmung: „Diejenigen aber,
welche diesen Institutionen entgegenhandeln werden, soll der Fluch
Gottes treffen, und mögen sie unglücklich sein ihr Leben lang"

Das ist der Hattischerif von Gul-Han6, und das hat man bei
uns einen ohnmächtigen Nachdruck der französischen Charte nennen
wollen, vermuthlich nur, um der letzteren ein Kompliment zu machen.
Nein, der Hattischerif ist keine Charte und will keine sein; in diesen
einfachen Verordnungen, die sich auf die natürlichsten Forderungen
des gemeinen Verstandes stützen, ist Nichts von dem künstlichen Bau
einer constitutionellen Staatsmaschine; es ist Nichts als das ABC
einer gesellschaftlichen Ordnung, und nur die Form, in welcher der
Sultan seinen Unterthanen Garantien gibt, die sie bisher nicht be¬
sessen, erinnert an unsere octroyirten Staatsgrundgesetze. Das Oc-
troyiren aber ist echt orientalisch, echt patriarchalisch und eben darum
in Constantinopel besser an seinem Platze, als in Hannover oder
Baden,- als in München oder Berlin. Die feierliche Proklamation
des Hattischerifö aber, in der man die comödiantenhafte Declama-
tionssucht des französirten Reschid zu erkennen meinte, hatte ihren
guten politischen Grund, und war nach gewissen Seiten hin eine
Demonstration, die bet der kritischen Lage der Pforte nothwendig
und heilsam war.

Der einzige Vorwurf, den man dem Hattischerif von Gut-Haro
machen kann, ist der, daß eS so schwer ist, ihn zu verwirklichen;
daran ist aber nicht seine Tendenz Schuld, sondern die Lage der
Dinge. Dadurch wird der Hattischerif zu einem bloßen Programm,
zu einer öffentlichen Beichte und einer Proklamation guter Vor¬
sätze ... Mit guten Vorsätzen aber, sagt das Sprichwort, ist die
Hölle gepflastert.

Reschid selbst jedoch muß man die Gerechtigkeit widerfahren


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[0455] das erclufive System der muselmännischen Lebensordnung auf's Haupt. Ferner kündigt der Hattischerif ein strenges Gesetz gegen den Aemter- und Stellenhandel an, den ebenfalls „die heilige Schrift verbiete" und der vorzugsweise Schuld sei am Verfalle des Reiches, und nach¬ dem er zur Berathschlagung und Feststellung der übrigen Punkte eine Art gesetzgebender Versammlung angekündigt, die aus den Ministern und Notabeln des Reiches bestehen, an gewissen Tagen zusammen¬ kommen, und wo Jeder frei seine Meinung äußern soll, schließt er mit der folgenden originellen Strafbestimmung: „Diejenigen aber, welche diesen Institutionen entgegenhandeln werden, soll der Fluch Gottes treffen, und mögen sie unglücklich sein ihr Leben lang" Das ist der Hattischerif von Gul-Han6, und das hat man bei uns einen ohnmächtigen Nachdruck der französischen Charte nennen wollen, vermuthlich nur, um der letzteren ein Kompliment zu machen. Nein, der Hattischerif ist keine Charte und will keine sein; in diesen einfachen Verordnungen, die sich auf die natürlichsten Forderungen des gemeinen Verstandes stützen, ist Nichts von dem künstlichen Bau einer constitutionellen Staatsmaschine; es ist Nichts als das ABC einer gesellschaftlichen Ordnung, und nur die Form, in welcher der Sultan seinen Unterthanen Garantien gibt, die sie bisher nicht be¬ sessen, erinnert an unsere octroyirten Staatsgrundgesetze. Das Oc- troyiren aber ist echt orientalisch, echt patriarchalisch und eben darum in Constantinopel besser an seinem Platze, als in Hannover oder Baden,- als in München oder Berlin. Die feierliche Proklamation des Hattischerifö aber, in der man die comödiantenhafte Declama- tionssucht des französirten Reschid zu erkennen meinte, hatte ihren guten politischen Grund, und war nach gewissen Seiten hin eine Demonstration, die bet der kritischen Lage der Pforte nothwendig und heilsam war. Der einzige Vorwurf, den man dem Hattischerif von Gut-Haro machen kann, ist der, daß eS so schwer ist, ihn zu verwirklichen; daran ist aber nicht seine Tendenz Schuld, sondern die Lage der Dinge. Dadurch wird der Hattischerif zu einem bloßen Programm, zu einer öffentlichen Beichte und einer Proklamation guter Vor¬ sätze ... Mit guten Vorsätzen aber, sagt das Sprichwort, ist die Hölle gepflastert. Reschid selbst jedoch muß man die Gerechtigkeit widerfahren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/455>, abgerufen am 06.02.2025.