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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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fung auf den Koran, dessen Beobachtung früher das Heil des
Staates gesichert habe, und dann die geschwinde Unterschiebung neuer
Institutionen, von denen der Koran Nichts gewußt hat, das ist eine
sehr diplomatische Logik, und daS allerliebste jesuitische Talent, das
daraus hervorlächelt, könnte Einen bewegen, auszurufen: Noch ist
die Türkei nicht verloren! sie ist würdig, in die Reihe der europäi¬
schen Staaten aufgenommen zu werden. Doch kann man die kleine
Escamotage entschuldigen. Erstens galt es, die Reform, die unter
den brutalen Händen Mahmud's den Charakter einer unnützen Fri¬
volität angenommen hatte, pietätsvoll unter den Schutz des Korans
zu stellen, zweitens endlich ist der Koran besser als sein Ruf. Ohne
grade ein Lehrbuch der Toleranz zu sein, trägt er doch lange nicht
die Verantwortlichkeit für alle Gräuel, die man in seinem Namen
begangen hat; und mit einigermaßen rationalistischer Auslegung
könnte er in der That dem Decret deS Rvsenpavillonö als Grund¬
lage dienen.

Der Hattischerif zählt dann die "neuen Institutionen" auf. Drei
Punkte werden besonders hervorgehoben: I) Sicherheit des Lebens,
Eigenthums und der Ehre der Individuen, 2) eine regelmäßige
Steuererhebung und 3) eine gehörig geordnete Conscription.


"Deshalb soll künftig der Proceß jedes Angeklagten öffentlich,
"dem göttlichen Gesetze gemäß, und nach vorhergegangener Unter¬
suchung entschieden werden, und ohne ein solches Urtheil soll
"Niemand einen Andern, weder heimlich noch öffentlich, durch Gift
"oder auf andere Weise hinrichten lassen."

Dieser kleine Paragraph, der eine pragmatische Geschichte der
türkischen Justiz aufwiegt, spricht jedenfalls für die Nothwendigkeit
neuer Institutionen d. h. von Institutionen überhaupt im Reiche
des Padischah.


"Die unschuldigen Erben eines Verbrechers sollen ihrer legi¬
timen Rechte nicht beraubt und die Güter des Schuldigen nicht
"confiscire werden. Diese Rechte erstrecken sich auf alle unsere
"Unterthanen, welcher Religion oder Secte sie angehören mögen,
"auf daß Jeder seines Lebens, seiner Ehre und seines Vermögens
"sicher sei, wie es der heilige Wortlaut unseres Gesetzes verlangt."

Indem Neschid-Pascha diesen "heiligen Wortlaut des Gesetzes"
ein wenig auf die Folter spannte, traf er mit einem einzigen Schlage


fung auf den Koran, dessen Beobachtung früher das Heil des
Staates gesichert habe, und dann die geschwinde Unterschiebung neuer
Institutionen, von denen der Koran Nichts gewußt hat, das ist eine
sehr diplomatische Logik, und daS allerliebste jesuitische Talent, das
daraus hervorlächelt, könnte Einen bewegen, auszurufen: Noch ist
die Türkei nicht verloren! sie ist würdig, in die Reihe der europäi¬
schen Staaten aufgenommen zu werden. Doch kann man die kleine
Escamotage entschuldigen. Erstens galt es, die Reform, die unter
den brutalen Händen Mahmud's den Charakter einer unnützen Fri¬
volität angenommen hatte, pietätsvoll unter den Schutz des Korans
zu stellen, zweitens endlich ist der Koran besser als sein Ruf. Ohne
grade ein Lehrbuch der Toleranz zu sein, trägt er doch lange nicht
die Verantwortlichkeit für alle Gräuel, die man in seinem Namen
begangen hat; und mit einigermaßen rationalistischer Auslegung
könnte er in der That dem Decret deS Rvsenpavillonö als Grund¬
lage dienen.

Der Hattischerif zählt dann die „neuen Institutionen" auf. Drei
Punkte werden besonders hervorgehoben: I) Sicherheit des Lebens,
Eigenthums und der Ehre der Individuen, 2) eine regelmäßige
Steuererhebung und 3) eine gehörig geordnete Conscription.


„Deshalb soll künftig der Proceß jedes Angeklagten öffentlich,
„dem göttlichen Gesetze gemäß, und nach vorhergegangener Unter¬
suchung entschieden werden, und ohne ein solches Urtheil soll
„Niemand einen Andern, weder heimlich noch öffentlich, durch Gift
„oder auf andere Weise hinrichten lassen."

Dieser kleine Paragraph, der eine pragmatische Geschichte der
türkischen Justiz aufwiegt, spricht jedenfalls für die Nothwendigkeit
neuer Institutionen d. h. von Institutionen überhaupt im Reiche
des Padischah.


„Die unschuldigen Erben eines Verbrechers sollen ihrer legi¬
timen Rechte nicht beraubt und die Güter des Schuldigen nicht
„confiscire werden. Diese Rechte erstrecken sich auf alle unsere
„Unterthanen, welcher Religion oder Secte sie angehören mögen,
„auf daß Jeder seines Lebens, seiner Ehre und seines Vermögens
„sicher sei, wie es der heilige Wortlaut unseres Gesetzes verlangt."

Indem Neschid-Pascha diesen „heiligen Wortlaut des Gesetzes"
ein wenig auf die Folter spannte, traf er mit einem einzigen Schlage


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[0454] fung auf den Koran, dessen Beobachtung früher das Heil des Staates gesichert habe, und dann die geschwinde Unterschiebung neuer Institutionen, von denen der Koran Nichts gewußt hat, das ist eine sehr diplomatische Logik, und daS allerliebste jesuitische Talent, das daraus hervorlächelt, könnte Einen bewegen, auszurufen: Noch ist die Türkei nicht verloren! sie ist würdig, in die Reihe der europäi¬ schen Staaten aufgenommen zu werden. Doch kann man die kleine Escamotage entschuldigen. Erstens galt es, die Reform, die unter den brutalen Händen Mahmud's den Charakter einer unnützen Fri¬ volität angenommen hatte, pietätsvoll unter den Schutz des Korans zu stellen, zweitens endlich ist der Koran besser als sein Ruf. Ohne grade ein Lehrbuch der Toleranz zu sein, trägt er doch lange nicht die Verantwortlichkeit für alle Gräuel, die man in seinem Namen begangen hat; und mit einigermaßen rationalistischer Auslegung könnte er in der That dem Decret deS Rvsenpavillonö als Grund¬ lage dienen. Der Hattischerif zählt dann die „neuen Institutionen" auf. Drei Punkte werden besonders hervorgehoben: I) Sicherheit des Lebens, Eigenthums und der Ehre der Individuen, 2) eine regelmäßige Steuererhebung und 3) eine gehörig geordnete Conscription. „Deshalb soll künftig der Proceß jedes Angeklagten öffentlich, „dem göttlichen Gesetze gemäß, und nach vorhergegangener Unter¬ suchung entschieden werden, und ohne ein solches Urtheil soll „Niemand einen Andern, weder heimlich noch öffentlich, durch Gift „oder auf andere Weise hinrichten lassen." Dieser kleine Paragraph, der eine pragmatische Geschichte der türkischen Justiz aufwiegt, spricht jedenfalls für die Nothwendigkeit neuer Institutionen d. h. von Institutionen überhaupt im Reiche des Padischah. „Die unschuldigen Erben eines Verbrechers sollen ihrer legi¬ timen Rechte nicht beraubt und die Güter des Schuldigen nicht „confiscire werden. Diese Rechte erstrecken sich auf alle unsere „Unterthanen, welcher Religion oder Secte sie angehören mögen, „auf daß Jeder seines Lebens, seiner Ehre und seines Vermögens „sicher sei, wie es der heilige Wortlaut unseres Gesetzes verlangt." Indem Neschid-Pascha diesen „heiligen Wortlaut des Gesetzes" ein wenig auf die Folter spannte, traf er mit einem einzigen Schlage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/454>, abgerufen am 06.02.2025.