Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.citirte Wiener Gaumenlüstemheit mit der von Hamburg, Bremen Ueberhaupt hat das alte Lied: "Es giebt nur a Kaiserstadt," 55-i°
citirte Wiener Gaumenlüstemheit mit der von Hamburg, Bremen Ueberhaupt hat das alte Lied: „Es giebt nur a Kaiserstadt," 55-i°
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citirte Wiener Gaumenlüstemheit mit der von Hamburg, Bremen
u. s. w. Der „Speisezettel" eines Wiener Gasthauses ist monoton,
wie der Lectionscatalog einer österreichischen Universität. Nostbratl,
Mehlspeisen und Backhändel gerade so viel als man braucht, um
seinen Magen zu füllen! Aber die außerordentlichen Fächer, die
Anforderungen des leckern Geistes, des philosophischen und wissen¬
schaftlichen Gaumens gehen leer aus. Nirgends ein öffentlicher
Lehrstuhl für Austern, Hummern und für alle die tiefsinnigen Spe¬
kulationen der culinarischer Erkenntniß! Welch ein Unterschied da¬
gegen in den freien Städten des Nordens, selbst in dem unfreien
sanddürren Berlin. Was bei uns nur in den vorsichtigen Läden
„italienischer Früchtehändler" gesucht werden muß, was nur aus"
nahmsweise einigen eifrigen Forschern gleichsam nur el-A» selivdum
zugänglich ist, das bietet man anderswo auf Lehrkanzeln und Speis¬
zetteln Jedermann an.
Ueberhaupt hat das alte Lied: „Es giebt nur a Kaiserstadt,"
die Friedens- und Schlaftrunksmarseillaise der Wiener, seine Bedeu¬
tung verloren, und nur weil man mit ihm nicht weiter kann, fängt
man es wieder von vorne an. In dem Character der Wiener ist
eine Veränderung vorgegangen, über die man sich nicht täuschen
darf. Das moderne Wien ist nicht mehr wie das alte die Stadt
des „G'Spaß," sie ist kopfhängerisch geworden wie der StephanSthun»,
und ein vorherrschender Ernst hat sich namentlich im Mittelstände
festgesetzt: Frau Eva hat von dem Baume der Erkenntniß gegessen
und sieht, daß sie nackt ist. Von den allgemeinen Wehen und Lei¬
den der Zeit haben viele auch sie ergriffen, während ihre Freuden
die alten stereotypen geblieben sind und manche Runzel im Antlitze
tragen. Zu einer Zeit, wo in Deutschland alles noch Teichwasser
und abgestandenes Leben war, da glänzte Wien wenigstens durch
seine großartige Harmlosigkeit und Volksfreuden, durch ausgebildetere
Genußstätten, durch überwiegende Menschenzahl und legitimere Lust¬
barkeit. Seitdem aber die andern Deutschen deutsche neue Vcrgnü-
gungsquellen gefunden haben, ist die Capitale Oesterreichs selbst in
Vielem, was früher ihren Ruhm ausmachte, überboten und para-
lysirt worden. Die Kaiserstadt zehrt, wie der Frankfurter Kaisersaas,
nur noch von dem alten Rufe, jüngere Geschlechter haben sich vor¬
gedrängt, neue Städte haben sich fast zu gleicher Volkszahl empor-
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