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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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solution für die Sünden des Winters, um dann mit leichteren Her¬
zen in die frühere Weltlust von neuem sich zu stürzen. Prießnitz ist
nur ein moderner Tezzel und jeder Badearzt ein mehr oder minder
großer Ablaßkrämcr.

Auch der Banquier ist wieder zurück, steht vor seinem schwarz¬
gesprenkelten und gestempelten Contobuche mit leuchtenderen Augen
als vor dem grünen Lebensbunde der Natur, und glückt es ihm, zu
seiner Bcrmögenssumme neue Nullen hinzu zu malen, was ist ihm
dann Wind und Berg und Strom und Haide, jedes dieser kleinen
ovalen Zeichen ist ihm ein Weltglobus, der ihn mit Schopferstolz
erfüllt, den Künstler in Zahlen, den Gott im Einmaleins. -- Auch
der Beamte, das arme Müllerpferd, hat wieder seinen Sack aufge¬
laden und geht den schweren, trägen Schritt gedankenlos dahin. Der
Musiklehrer, der bescheidene Schulmann, der geschäftige Kleinhändler
und wie sie alle heißen die fleißigen Familienväter, die für die klei¬
nen Ersparnisse ihrer schweißbedeckten Arbeit Weib und Kind vor
die Linie hinaus -- aufs Land geschickt haben, und dann spät Abends
die Wanderung hinaus antraten, um frühzeitig wieder nach der
Stadt an ihr Tagewerk zurückzukehren, und die stillvergnüglich sich ein¬
bilden, sie haben den Sommer auf dem Lande verbracht, sie sind
alle mit Säcklein und Päcklein längst zu ihrem vierten Stock wieder
heimgezogen. Die Stadt ist complett, das Schiff ist gefüllt, die
Segel werden ausgespannt zur sechsmonatlichen Winterreise, und Je¬
der sucht aus dem Verdecke, in der Kajüte, in dem obern oder
untern Schiffsraume, wo er seinen Platz hat, so bequem als mög¬
lich sichs einzurichten.

Aber was treibt nun dieses vollgedrän.)te Schiff, abgeschnitten
von Land und freier Natur, abgeschnitten von dem Wechselleben mit
andern Nationen, während eines ganzen Winters? Wien hat den
Ruf für eine der vergnügungssüchtigsten, lustgesegensten Städte der
Welt, und doch ist sie im Grunde eine der bescheidensten, ja eine
der monotonsten. Familienleben und Sinnenleben sind ihre beiden
Hauptfaktoren; aber wo findet man diese nicht? Das Familienleben
ist in kleinen Städten noch inniger und das Sinnenleben in vielen
andern viel ausgedehnter. In letzterer Beziehung steht sogar Ham¬
burg über Wien, und um nur einen Beweis hervorzuheben, wie
sehr Wien unter seinem Rufe ist, so vergleiche man nur die viel-


solution für die Sünden des Winters, um dann mit leichteren Her¬
zen in die frühere Weltlust von neuem sich zu stürzen. Prießnitz ist
nur ein moderner Tezzel und jeder Badearzt ein mehr oder minder
großer Ablaßkrämcr.

Auch der Banquier ist wieder zurück, steht vor seinem schwarz¬
gesprenkelten und gestempelten Contobuche mit leuchtenderen Augen
als vor dem grünen Lebensbunde der Natur, und glückt es ihm, zu
seiner Bcrmögenssumme neue Nullen hinzu zu malen, was ist ihm
dann Wind und Berg und Strom und Haide, jedes dieser kleinen
ovalen Zeichen ist ihm ein Weltglobus, der ihn mit Schopferstolz
erfüllt, den Künstler in Zahlen, den Gott im Einmaleins. — Auch
der Beamte, das arme Müllerpferd, hat wieder seinen Sack aufge¬
laden und geht den schweren, trägen Schritt gedankenlos dahin. Der
Musiklehrer, der bescheidene Schulmann, der geschäftige Kleinhändler
und wie sie alle heißen die fleißigen Familienväter, die für die klei¬
nen Ersparnisse ihrer schweißbedeckten Arbeit Weib und Kind vor
die Linie hinaus — aufs Land geschickt haben, und dann spät Abends
die Wanderung hinaus antraten, um frühzeitig wieder nach der
Stadt an ihr Tagewerk zurückzukehren, und die stillvergnüglich sich ein¬
bilden, sie haben den Sommer auf dem Lande verbracht, sie sind
alle mit Säcklein und Päcklein längst zu ihrem vierten Stock wieder
heimgezogen. Die Stadt ist complett, das Schiff ist gefüllt, die
Segel werden ausgespannt zur sechsmonatlichen Winterreise, und Je¬
der sucht aus dem Verdecke, in der Kajüte, in dem obern oder
untern Schiffsraume, wo er seinen Platz hat, so bequem als mög¬
lich sichs einzurichten.

Aber was treibt nun dieses vollgedrän.)te Schiff, abgeschnitten
von Land und freier Natur, abgeschnitten von dem Wechselleben mit
andern Nationen, während eines ganzen Winters? Wien hat den
Ruf für eine der vergnügungssüchtigsten, lustgesegensten Städte der
Welt, und doch ist sie im Grunde eine der bescheidensten, ja eine
der monotonsten. Familienleben und Sinnenleben sind ihre beiden
Hauptfaktoren; aber wo findet man diese nicht? Das Familienleben
ist in kleinen Städten noch inniger und das Sinnenleben in vielen
andern viel ausgedehnter. In letzterer Beziehung steht sogar Ham¬
burg über Wien, und um nur einen Beweis hervorzuheben, wie
sehr Wien unter seinem Rufe ist, so vergleiche man nur die viel-


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[0434] solution für die Sünden des Winters, um dann mit leichteren Her¬ zen in die frühere Weltlust von neuem sich zu stürzen. Prießnitz ist nur ein moderner Tezzel und jeder Badearzt ein mehr oder minder großer Ablaßkrämcr. Auch der Banquier ist wieder zurück, steht vor seinem schwarz¬ gesprenkelten und gestempelten Contobuche mit leuchtenderen Augen als vor dem grünen Lebensbunde der Natur, und glückt es ihm, zu seiner Bcrmögenssumme neue Nullen hinzu zu malen, was ist ihm dann Wind und Berg und Strom und Haide, jedes dieser kleinen ovalen Zeichen ist ihm ein Weltglobus, der ihn mit Schopferstolz erfüllt, den Künstler in Zahlen, den Gott im Einmaleins. — Auch der Beamte, das arme Müllerpferd, hat wieder seinen Sack aufge¬ laden und geht den schweren, trägen Schritt gedankenlos dahin. Der Musiklehrer, der bescheidene Schulmann, der geschäftige Kleinhändler und wie sie alle heißen die fleißigen Familienväter, die für die klei¬ nen Ersparnisse ihrer schweißbedeckten Arbeit Weib und Kind vor die Linie hinaus — aufs Land geschickt haben, und dann spät Abends die Wanderung hinaus antraten, um frühzeitig wieder nach der Stadt an ihr Tagewerk zurückzukehren, und die stillvergnüglich sich ein¬ bilden, sie haben den Sommer auf dem Lande verbracht, sie sind alle mit Säcklein und Päcklein längst zu ihrem vierten Stock wieder heimgezogen. Die Stadt ist complett, das Schiff ist gefüllt, die Segel werden ausgespannt zur sechsmonatlichen Winterreise, und Je¬ der sucht aus dem Verdecke, in der Kajüte, in dem obern oder untern Schiffsraume, wo er seinen Platz hat, so bequem als mög¬ lich sichs einzurichten. Aber was treibt nun dieses vollgedrän.)te Schiff, abgeschnitten von Land und freier Natur, abgeschnitten von dem Wechselleben mit andern Nationen, während eines ganzen Winters? Wien hat den Ruf für eine der vergnügungssüchtigsten, lustgesegensten Städte der Welt, und doch ist sie im Grunde eine der bescheidensten, ja eine der monotonsten. Familienleben und Sinnenleben sind ihre beiden Hauptfaktoren; aber wo findet man diese nicht? Das Familienleben ist in kleinen Städten noch inniger und das Sinnenleben in vielen andern viel ausgedehnter. In letzterer Beziehung steht sogar Ham¬ burg über Wien, und um nur einen Beweis hervorzuheben, wie sehr Wien unter seinem Rufe ist, so vergleiche man nur die viel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/434>, abgerufen am 05.02.2025.