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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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die menschliche Seele jeder andern Wahrnehmung als der durch die
Sinne beraube, und er daher weder die Gedanken der Kraft, der
Ursache, der Zeit und des Raumes, welche, obgleich hier nicht den
Sinnen verfallen, doch nichts desto weniger wirklich sind, noch die
psychologischen Thatsachen, welche in das Gebiet des Gewissens ge¬
hören, erklären könne. Er griff ihn selbst vom sittlichen und prak¬
tischen Gesichtspunkte aus an, indem er behauptete, daß die Schule
Condillac'ö, ungeachtet des Spiritualismus ihres Meisters, mit Ge¬
walt zur Läugnung Gottes und einer Moral, des Eigennutzes gelei¬
tet, den vollständigsten Materialismus zur nothwendigen Konsequenz
habe, daß mit einem Worte der Catechismus von Volney in der
Moral der unumgängliche Schlußsatz der Abhandlungen über die
Empfindungen sei.

Wir können hier die Beweisführung Royer-Collard's nicht ent¬
wickeln, sondern müssen uns begnügen zu erzählen, daß sie den voll¬
kommensten Erfolg hatte, und daß in Zeit von zwei Jahren durch
die Macht dieses gewichtigen, erhabenen, ernsten, schmucklosen, aber
mit einer unerbittlichen Logik bewaffneten Wortes die Lehre Condil-
lac's, auf den Tod getroffen, zusammenstürzte. Uebrigens waren die
Vorträge Royer-Collard's eher kritisch als dogmatisch; es mangelte
ihm an Zeit, um das, was er umstürzte, auch zu ersetzen; diese Auf¬
gabe war seinem Schüler und Nachfolger Herrn Cousin aufbehalten,
welcher das Werk seines Lehrers fortführen und auf den Trümmern
des Sensualismus jene cclectisch-ranonalistische Schule aufbauen sollte,
welche vor ungefähr fünfzehn Jahren so siegreich, so allgemein aner¬
kannt war und welche jetzt so sehr angefeindet wird.

Wir stehen nun an dem Ausgangspunkte von Royer-Collard's
politischer Laufbahn; bevor wir ihm auf derselben folgen, will ich
den allgemeinen Eindruck schildern, welchen auf mich das aufmerk¬
same Lesen von ungefähr dreißig seiner bei den verschiedensten Gele¬
genheiten und über die verschiedensten Gegenstände gehaltenen Reden
gemacht hat. Royer-Collard war kein gewöhnlicher Politiker, wel¬
cher, so gut es eben gehen wollte, eine gewisse Summe allgemeiner
Gedanken auf die Leitung von Menschen und Geschäften anwandte.
Er war vor Allem ein Philosoph, ein Professor des konstitutionellen
Staatsrechtes, welcher das Gebiet der Thatsachen mit einem Systeme
betrat, welches zu einer politischen Religion geworden war. Die


die menschliche Seele jeder andern Wahrnehmung als der durch die
Sinne beraube, und er daher weder die Gedanken der Kraft, der
Ursache, der Zeit und des Raumes, welche, obgleich hier nicht den
Sinnen verfallen, doch nichts desto weniger wirklich sind, noch die
psychologischen Thatsachen, welche in das Gebiet des Gewissens ge¬
hören, erklären könne. Er griff ihn selbst vom sittlichen und prak¬
tischen Gesichtspunkte aus an, indem er behauptete, daß die Schule
Condillac'ö, ungeachtet des Spiritualismus ihres Meisters, mit Ge¬
walt zur Läugnung Gottes und einer Moral, des Eigennutzes gelei¬
tet, den vollständigsten Materialismus zur nothwendigen Konsequenz
habe, daß mit einem Worte der Catechismus von Volney in der
Moral der unumgängliche Schlußsatz der Abhandlungen über die
Empfindungen sei.

Wir können hier die Beweisführung Royer-Collard's nicht ent¬
wickeln, sondern müssen uns begnügen zu erzählen, daß sie den voll¬
kommensten Erfolg hatte, und daß in Zeit von zwei Jahren durch
die Macht dieses gewichtigen, erhabenen, ernsten, schmucklosen, aber
mit einer unerbittlichen Logik bewaffneten Wortes die Lehre Condil-
lac's, auf den Tod getroffen, zusammenstürzte. Uebrigens waren die
Vorträge Royer-Collard's eher kritisch als dogmatisch; es mangelte
ihm an Zeit, um das, was er umstürzte, auch zu ersetzen; diese Auf¬
gabe war seinem Schüler und Nachfolger Herrn Cousin aufbehalten,
welcher das Werk seines Lehrers fortführen und auf den Trümmern
des Sensualismus jene cclectisch-ranonalistische Schule aufbauen sollte,
welche vor ungefähr fünfzehn Jahren so siegreich, so allgemein aner¬
kannt war und welche jetzt so sehr angefeindet wird.

Wir stehen nun an dem Ausgangspunkte von Royer-Collard's
politischer Laufbahn; bevor wir ihm auf derselben folgen, will ich
den allgemeinen Eindruck schildern, welchen auf mich das aufmerk¬
same Lesen von ungefähr dreißig seiner bei den verschiedensten Gele¬
genheiten und über die verschiedensten Gegenstände gehaltenen Reden
gemacht hat. Royer-Collard war kein gewöhnlicher Politiker, wel¬
cher, so gut es eben gehen wollte, eine gewisse Summe allgemeiner
Gedanken auf die Leitung von Menschen und Geschäften anwandte.
Er war vor Allem ein Philosoph, ein Professor des konstitutionellen
Staatsrechtes, welcher das Gebiet der Thatsachen mit einem Systeme
betrat, welches zu einer politischen Religion geworden war. Die


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[0028] die menschliche Seele jeder andern Wahrnehmung als der durch die Sinne beraube, und er daher weder die Gedanken der Kraft, der Ursache, der Zeit und des Raumes, welche, obgleich hier nicht den Sinnen verfallen, doch nichts desto weniger wirklich sind, noch die psychologischen Thatsachen, welche in das Gebiet des Gewissens ge¬ hören, erklären könne. Er griff ihn selbst vom sittlichen und prak¬ tischen Gesichtspunkte aus an, indem er behauptete, daß die Schule Condillac'ö, ungeachtet des Spiritualismus ihres Meisters, mit Ge¬ walt zur Läugnung Gottes und einer Moral, des Eigennutzes gelei¬ tet, den vollständigsten Materialismus zur nothwendigen Konsequenz habe, daß mit einem Worte der Catechismus von Volney in der Moral der unumgängliche Schlußsatz der Abhandlungen über die Empfindungen sei. Wir können hier die Beweisführung Royer-Collard's nicht ent¬ wickeln, sondern müssen uns begnügen zu erzählen, daß sie den voll¬ kommensten Erfolg hatte, und daß in Zeit von zwei Jahren durch die Macht dieses gewichtigen, erhabenen, ernsten, schmucklosen, aber mit einer unerbittlichen Logik bewaffneten Wortes die Lehre Condil- lac's, auf den Tod getroffen, zusammenstürzte. Uebrigens waren die Vorträge Royer-Collard's eher kritisch als dogmatisch; es mangelte ihm an Zeit, um das, was er umstürzte, auch zu ersetzen; diese Auf¬ gabe war seinem Schüler und Nachfolger Herrn Cousin aufbehalten, welcher das Werk seines Lehrers fortführen und auf den Trümmern des Sensualismus jene cclectisch-ranonalistische Schule aufbauen sollte, welche vor ungefähr fünfzehn Jahren so siegreich, so allgemein aner¬ kannt war und welche jetzt so sehr angefeindet wird. Wir stehen nun an dem Ausgangspunkte von Royer-Collard's politischer Laufbahn; bevor wir ihm auf derselben folgen, will ich den allgemeinen Eindruck schildern, welchen auf mich das aufmerk¬ same Lesen von ungefähr dreißig seiner bei den verschiedensten Gele¬ genheiten und über die verschiedensten Gegenstände gehaltenen Reden gemacht hat. Royer-Collard war kein gewöhnlicher Politiker, wel¬ cher, so gut es eben gehen wollte, eine gewisse Summe allgemeiner Gedanken auf die Leitung von Menschen und Geschäften anwandte. Er war vor Allem ein Philosoph, ein Professor des konstitutionellen Staatsrechtes, welcher das Gebiet der Thatsachen mit einem Systeme betrat, welches zu einer politischen Religion geworden war. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/28>, abgerufen am 05.02.2025.