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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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aus eigner Aufforderung befreit hatte. Diesem Umstände besonders,
glaube ich, war es zuzuschreiben, daß diese herrliche Frau für die
Deutschen ein sehr warmes Herz trug.

Aus dem Garten führte mich der alte Graf in das Dorf, um
mich von der Wohlhabenheit desselben zu überzeugen. Ich hätte in¬
deß deutsche Dörfer nicht kennen müssen, um es nicht für einen sehr
traurigen, dürftigen Ort halten zu sollen. Der polnische Bauer frei¬
lich steht dem menschlichen Urzustande noch so nahe, daß sich polni¬
sche Dörfer mit deutschen gar nicht vergleichen lassen; eS Ware denn
in solcher Weise, wie man das zehnte Jahrhundert mit dem neun¬
zehnten vergleicht Die Leibeigenschaft, welche in Polen bis zu Ende
des vorigen Jahrhunderts bestanden, und sich in vielen widerli¬
chen Spuren noch jetzt bemerkbar macht, hat den Bauer in
jeder Beziehung auf einer sehr tiefen Stufe der Bildung erhalten.
Jetzt noch kennt er kaum höhere Bedürfnisse des Lebens, als die,
welche auch das Thier kennt. An den Körper ist der Geist zu in¬
nig gekettet, als daß dieser unter solchem Umstände bei'in polnischen
Bauer gegenwärtig schon eben mehr sein könnte, als eine gewisse
Art von Instinkt. Das Heiligthum des Vaterlandes, den hohen
Werth der Nationalität und alles das, was das Herz des gebildeten
Polen bewegt und ihm jene bewunderte Größe giebt, kennt er nicht.

Dies eben ist das ungeheure Gebrechen des polnischen Reiches,
welches den Sturz desselben auf seiner Rechnung trägt, und dieses
Gebrechen erkannten bereits im vorigen Jahrhunderte -- aber doch
schon zu spät -- die Polen, wie die Aufhebung der Leibeigenschaft
und die von den Krakauer Conföderirten unterworfene Constitution
bewiesen. Das listige Rußland aber wußte zu wohl, welche Kraft
Polen gewinne, wenn dessen Bauernstand geweckt und demselben durch
Emporhebung des schlummernden Geistes Interesse an Vaterland
und Volk zugeführt werde, und säumte daher nicht, die Leitung deö
schweren polnischen NeichSgebrechens zu verhindern. Und noch jetzt
geht sein Bestreben dahin, das Gebrechen zu erhalten und wo mög¬
lich für die Ewigkeit zu befestigen, was sich in der Aufhebung aller
zur Zeit deö Herzogthums Warschau errichteten Dorfschulen lind vie¬
lem Andern nur zu gut erkennen läßt. Ob das Streben Rußlands
die Krone auf ewig behalten wird, das wird gewiß Jeder, der daS
gegenwärtig ziemlich vielfältige Wirken des polnischen Adels kennt,


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aus eigner Aufforderung befreit hatte. Diesem Umstände besonders,
glaube ich, war es zuzuschreiben, daß diese herrliche Frau für die
Deutschen ein sehr warmes Herz trug.

Aus dem Garten führte mich der alte Graf in das Dorf, um
mich von der Wohlhabenheit desselben zu überzeugen. Ich hätte in¬
deß deutsche Dörfer nicht kennen müssen, um es nicht für einen sehr
traurigen, dürftigen Ort halten zu sollen. Der polnische Bauer frei¬
lich steht dem menschlichen Urzustande noch so nahe, daß sich polni¬
sche Dörfer mit deutschen gar nicht vergleichen lassen; eS Ware denn
in solcher Weise, wie man das zehnte Jahrhundert mit dem neun¬
zehnten vergleicht Die Leibeigenschaft, welche in Polen bis zu Ende
des vorigen Jahrhunderts bestanden, und sich in vielen widerli¬
chen Spuren noch jetzt bemerkbar macht, hat den Bauer in
jeder Beziehung auf einer sehr tiefen Stufe der Bildung erhalten.
Jetzt noch kennt er kaum höhere Bedürfnisse des Lebens, als die,
welche auch das Thier kennt. An den Körper ist der Geist zu in¬
nig gekettet, als daß dieser unter solchem Umstände bei'in polnischen
Bauer gegenwärtig schon eben mehr sein könnte, als eine gewisse
Art von Instinkt. Das Heiligthum des Vaterlandes, den hohen
Werth der Nationalität und alles das, was das Herz des gebildeten
Polen bewegt und ihm jene bewunderte Größe giebt, kennt er nicht.

Dies eben ist das ungeheure Gebrechen des polnischen Reiches,
welches den Sturz desselben auf seiner Rechnung trägt, und dieses
Gebrechen erkannten bereits im vorigen Jahrhunderte — aber doch
schon zu spät — die Polen, wie die Aufhebung der Leibeigenschaft
und die von den Krakauer Conföderirten unterworfene Constitution
bewiesen. Das listige Rußland aber wußte zu wohl, welche Kraft
Polen gewinne, wenn dessen Bauernstand geweckt und demselben durch
Emporhebung des schlummernden Geistes Interesse an Vaterland
und Volk zugeführt werde, und säumte daher nicht, die Leitung deö
schweren polnischen NeichSgebrechens zu verhindern. Und noch jetzt
geht sein Bestreben dahin, das Gebrechen zu erhalten und wo mög¬
lich für die Ewigkeit zu befestigen, was sich in der Aufhebung aller
zur Zeit deö Herzogthums Warschau errichteten Dorfschulen lind vie¬
lem Andern nur zu gut erkennen läßt. Ob das Streben Rußlands
die Krone auf ewig behalten wird, das wird gewiß Jeder, der daS
gegenwärtig ziemlich vielfältige Wirken des polnischen Adels kennt,


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[0019] aus eigner Aufforderung befreit hatte. Diesem Umstände besonders, glaube ich, war es zuzuschreiben, daß diese herrliche Frau für die Deutschen ein sehr warmes Herz trug. Aus dem Garten führte mich der alte Graf in das Dorf, um mich von der Wohlhabenheit desselben zu überzeugen. Ich hätte in¬ deß deutsche Dörfer nicht kennen müssen, um es nicht für einen sehr traurigen, dürftigen Ort halten zu sollen. Der polnische Bauer frei¬ lich steht dem menschlichen Urzustande noch so nahe, daß sich polni¬ sche Dörfer mit deutschen gar nicht vergleichen lassen; eS Ware denn in solcher Weise, wie man das zehnte Jahrhundert mit dem neun¬ zehnten vergleicht Die Leibeigenschaft, welche in Polen bis zu Ende des vorigen Jahrhunderts bestanden, und sich in vielen widerli¬ chen Spuren noch jetzt bemerkbar macht, hat den Bauer in jeder Beziehung auf einer sehr tiefen Stufe der Bildung erhalten. Jetzt noch kennt er kaum höhere Bedürfnisse des Lebens, als die, welche auch das Thier kennt. An den Körper ist der Geist zu in¬ nig gekettet, als daß dieser unter solchem Umstände bei'in polnischen Bauer gegenwärtig schon eben mehr sein könnte, als eine gewisse Art von Instinkt. Das Heiligthum des Vaterlandes, den hohen Werth der Nationalität und alles das, was das Herz des gebildeten Polen bewegt und ihm jene bewunderte Größe giebt, kennt er nicht. Dies eben ist das ungeheure Gebrechen des polnischen Reiches, welches den Sturz desselben auf seiner Rechnung trägt, und dieses Gebrechen erkannten bereits im vorigen Jahrhunderte — aber doch schon zu spät — die Polen, wie die Aufhebung der Leibeigenschaft und die von den Krakauer Conföderirten unterworfene Constitution bewiesen. Das listige Rußland aber wußte zu wohl, welche Kraft Polen gewinne, wenn dessen Bauernstand geweckt und demselben durch Emporhebung des schlummernden Geistes Interesse an Vaterland und Volk zugeführt werde, und säumte daher nicht, die Leitung deö schweren polnischen NeichSgebrechens zu verhindern. Und noch jetzt geht sein Bestreben dahin, das Gebrechen zu erhalten und wo mög¬ lich für die Ewigkeit zu befestigen, was sich in der Aufhebung aller zur Zeit deö Herzogthums Warschau errichteten Dorfschulen lind vie¬ lem Andern nur zu gut erkennen läßt. Ob das Streben Rußlands die Krone auf ewig behalten wird, das wird gewiß Jeder, der daS gegenwärtig ziemlich vielfältige Wirken des polnischen Adels kennt, 2*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/19>, abgerufen am 05.02.2025.