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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Ein ganz entgegengesetztes Schicksal hat der Belgier, der Kü-
stenbewohner auf der großen Durchzugsstraße Europa's. In alters¬
grauen Zeiten bereits Schiffer und Handelsmann, ursprünglich schon
auf Verkehr und Zusammenleben angewiesen, hat er auch alle Sinne
geschärft, alle Glieder gestärkt, die als Hacken und Bänder die Ge¬
sellschaft umfassen und durchziehen. Wer hat eifriger für seine Frei¬
heit gestritten zu allen Zeiten? Wer hat endlich eine freiere Ver¬
fassung errungen? Wer hat herrlichere Monumente gebaut? Wer
hat kühnere Straßen angelegt? Wer hat in so kleinem Raume grö¬
ßere Gewerbthätigkeit entwickelt? Aber sucht ihn auf in seinem stillen
Hause, wenn er heimkehrt vom bewegten Markte, vom lauten Ge¬
meindehaus, seht ihn an den stolzen, freien, thatkräftigen Mann, wie
sein Geist plötzlich in den Schlafrock, in die alten bequemen Pan¬
toffel flüchtet, wie seine Gedanken die Schwingen hangen lassen, der
Priester gängelt ihn wie ein Kind, die angeerbten Traditionen, Ur¬
väter Hausrath, erdrücken ihn, sein Auge blinzelt wohl dem Licht
entgegen, aber der Muth zur unmittelbaren Forschung, zur freien
Erkenntniß des Höchsten fehlt ihm.

Könnte man die Zweige deutscher Geisteseichen, die Saaten
deutscher Wissenschaft auf belgischen Boden pflanzen, könnte man den
gesunden, practischen Sinn, die materialistische Elasticität, den Frei¬
heitsschwung und die Unternehmungslust der Belgier den Deutschen
einimpfen, welche Nation wäre dann herrlicher auf der Welt?




Ein ganz entgegengesetztes Schicksal hat der Belgier, der Kü-
stenbewohner auf der großen Durchzugsstraße Europa's. In alters¬
grauen Zeiten bereits Schiffer und Handelsmann, ursprünglich schon
auf Verkehr und Zusammenleben angewiesen, hat er auch alle Sinne
geschärft, alle Glieder gestärkt, die als Hacken und Bänder die Ge¬
sellschaft umfassen und durchziehen. Wer hat eifriger für seine Frei¬
heit gestritten zu allen Zeiten? Wer hat endlich eine freiere Ver¬
fassung errungen? Wer hat herrlichere Monumente gebaut? Wer
hat kühnere Straßen angelegt? Wer hat in so kleinem Raume grö¬
ßere Gewerbthätigkeit entwickelt? Aber sucht ihn auf in seinem stillen
Hause, wenn er heimkehrt vom bewegten Markte, vom lauten Ge¬
meindehaus, seht ihn an den stolzen, freien, thatkräftigen Mann, wie
sein Geist plötzlich in den Schlafrock, in die alten bequemen Pan¬
toffel flüchtet, wie seine Gedanken die Schwingen hangen lassen, der
Priester gängelt ihn wie ein Kind, die angeerbten Traditionen, Ur¬
väter Hausrath, erdrücken ihn, sein Auge blinzelt wohl dem Licht
entgegen, aber der Muth zur unmittelbaren Forschung, zur freien
Erkenntniß des Höchsten fehlt ihm.

Könnte man die Zweige deutscher Geisteseichen, die Saaten
deutscher Wissenschaft auf belgischen Boden pflanzen, könnte man den
gesunden, practischen Sinn, die materialistische Elasticität, den Frei¬
heitsschwung und die Unternehmungslust der Belgier den Deutschen
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[0124] Ein ganz entgegengesetztes Schicksal hat der Belgier, der Kü- stenbewohner auf der großen Durchzugsstraße Europa's. In alters¬ grauen Zeiten bereits Schiffer und Handelsmann, ursprünglich schon auf Verkehr und Zusammenleben angewiesen, hat er auch alle Sinne geschärft, alle Glieder gestärkt, die als Hacken und Bänder die Ge¬ sellschaft umfassen und durchziehen. Wer hat eifriger für seine Frei¬ heit gestritten zu allen Zeiten? Wer hat endlich eine freiere Ver¬ fassung errungen? Wer hat herrlichere Monumente gebaut? Wer hat kühnere Straßen angelegt? Wer hat in so kleinem Raume grö¬ ßere Gewerbthätigkeit entwickelt? Aber sucht ihn auf in seinem stillen Hause, wenn er heimkehrt vom bewegten Markte, vom lauten Ge¬ meindehaus, seht ihn an den stolzen, freien, thatkräftigen Mann, wie sein Geist plötzlich in den Schlafrock, in die alten bequemen Pan¬ toffel flüchtet, wie seine Gedanken die Schwingen hangen lassen, der Priester gängelt ihn wie ein Kind, die angeerbten Traditionen, Ur¬ väter Hausrath, erdrücken ihn, sein Auge blinzelt wohl dem Licht entgegen, aber der Muth zur unmittelbaren Forschung, zur freien Erkenntniß des Höchsten fehlt ihm. Könnte man die Zweige deutscher Geisteseichen, die Saaten deutscher Wissenschaft auf belgischen Boden pflanzen, könnte man den gesunden, practischen Sinn, die materialistische Elasticität, den Frei¬ heitsschwung und die Unternehmungslust der Belgier den Deutschen einimpfen, welche Nation wäre dann herrlicher auf der Welt?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/124>, abgerufen am 05.02.2025.