Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.Letzterer, Gesandter in London, in neuester Zeit Minister des Innern, 15'
Letzterer, Gesandter in London, in neuester Zeit Minister des Innern, 15'
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0123" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/271384"/> <p xml:id="ID_289" prev="#ID_288"> Letzterer, Gesandter in London, in neuester Zeit Minister des Innern,<lb/> ist allerdings mit einem großen literarhistorischen Werke beschäftigt,<lb/> das die Philosophen und Moralisten bis auf die jüngste Zeit um¬<lb/> saßt, aber die Veröffentlichung desselben kann sich noch auf Jahre<lb/> hinausverschieben. — Das Uebergewicht, das die Hierarchie und die<lb/> katholischen Ultras seit der Revolution gewonnen, und die directe<lb/> und indirecte Censur, die sie bei den Studien ausüben, ist unbestreitbar<lb/> ein vernichtender Hauch für die freie philosophische Forschung. Doch<lb/> scheint viel Widerstrebendes in der Natur der Belgier selbst zu liegen.<lb/> Ist doch auch Italien dem Katholicismus ergeben und wie viele<lb/> tiefe philosophische Denker hat es nicht hervorgebracht! Das ist<lb/> wohl zu beachten in Belgien: der breite, herrliche Weg, der in Po¬<lb/> litik, Handel, Industrie, kurz in allem Verkehrs leben, so frisch und<lb/> frei sich dahinstreckt, wird immer enger, struppiger und unbefahrener,<lb/> je mehr er sich dem innern, tiefern Gedanken- und Seelenleben nä¬<lb/> hert. Die Literatur ist hierin ein sprechender Wegweiser. Journa¬<lb/> lismus, Statistik, politische Discussion, wie trefflich bebaut! Ge¬<lb/> schichte, im factischen Theile fleißig, im kritischen spärlich; Poesie,<lb/> kümmerlich, Philosophie gar nicht! — DaS sind die Gegensätze zwi¬<lb/> schen Deutschland und seinem kleinen Nachbar. Der Deutsche, der<lb/> Binnenlandbewohner zwischen altersgrauen Wäldern, so lange Zeit<lb/> Kleinbürger einer der hundert Staaten des heiligen römischen Reichs,<lb/> innerhalb seines kleinen Bezirks von dem Kastenunterschied in noch<lb/> kleineren Kreis gebannt, von dem großen freien Weltleben lange<lb/> ausgeschlossen, immer auf sich selbst verwiesen, hat allmälig seine<lb/> Innerlichkeit, sein Gedankenleben stärker als alles Andere ausgebildet.<lb/> Schüchtern und unpractisch in der großen Welt, im großen gemein¬<lb/> samen Verkehr, hat er den Engländern, Franzosen und Niederlän¬<lb/> dern den Vortritt gelassen auf den weiten Straßen des Welthandels,<lb/> der politischen Freiheit und Association. Aber in seiner Einsamkeit,<lb/> in seinem Gemüths- und Geistesleben hat er kühner als alle klebri¬<lb/> gen an den mächtigsten Weltgedanken gerüttelt und manche Vorur¬<lb/> theile abgeschüttelt, an welchen seine Nachbarn noch schwer schleppen.<lb/> Darum ist die deutsche Philosophie gewaltiger, frucht- und furcht¬<lb/> barer als all' die Nebenplaneten, die sich um die Sonne drehen,<lb/> parum ist auch die deutsche Lyrik so getränkt von dem ewigen Quell<lb/> zuströmender Empfindung.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 15'</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0123]
Letzterer, Gesandter in London, in neuester Zeit Minister des Innern,
ist allerdings mit einem großen literarhistorischen Werke beschäftigt,
das die Philosophen und Moralisten bis auf die jüngste Zeit um¬
saßt, aber die Veröffentlichung desselben kann sich noch auf Jahre
hinausverschieben. — Das Uebergewicht, das die Hierarchie und die
katholischen Ultras seit der Revolution gewonnen, und die directe
und indirecte Censur, die sie bei den Studien ausüben, ist unbestreitbar
ein vernichtender Hauch für die freie philosophische Forschung. Doch
scheint viel Widerstrebendes in der Natur der Belgier selbst zu liegen.
Ist doch auch Italien dem Katholicismus ergeben und wie viele
tiefe philosophische Denker hat es nicht hervorgebracht! Das ist
wohl zu beachten in Belgien: der breite, herrliche Weg, der in Po¬
litik, Handel, Industrie, kurz in allem Verkehrs leben, so frisch und
frei sich dahinstreckt, wird immer enger, struppiger und unbefahrener,
je mehr er sich dem innern, tiefern Gedanken- und Seelenleben nä¬
hert. Die Literatur ist hierin ein sprechender Wegweiser. Journa¬
lismus, Statistik, politische Discussion, wie trefflich bebaut! Ge¬
schichte, im factischen Theile fleißig, im kritischen spärlich; Poesie,
kümmerlich, Philosophie gar nicht! — DaS sind die Gegensätze zwi¬
schen Deutschland und seinem kleinen Nachbar. Der Deutsche, der
Binnenlandbewohner zwischen altersgrauen Wäldern, so lange Zeit
Kleinbürger einer der hundert Staaten des heiligen römischen Reichs,
innerhalb seines kleinen Bezirks von dem Kastenunterschied in noch
kleineren Kreis gebannt, von dem großen freien Weltleben lange
ausgeschlossen, immer auf sich selbst verwiesen, hat allmälig seine
Innerlichkeit, sein Gedankenleben stärker als alles Andere ausgebildet.
Schüchtern und unpractisch in der großen Welt, im großen gemein¬
samen Verkehr, hat er den Engländern, Franzosen und Niederlän¬
dern den Vortritt gelassen auf den weiten Straßen des Welthandels,
der politischen Freiheit und Association. Aber in seiner Einsamkeit,
in seinem Gemüths- und Geistesleben hat er kühner als alle klebri¬
gen an den mächtigsten Weltgedanken gerüttelt und manche Vorur¬
theile abgeschüttelt, an welchen seine Nachbarn noch schwer schleppen.
Darum ist die deutsche Philosophie gewaltiger, frucht- und furcht¬
barer als all' die Nebenplaneten, die sich um die Sonne drehen,
parum ist auch die deutsche Lyrik so getränkt von dem ewigen Quell
zuströmender Empfindung.
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