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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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(gegenwärtig Minister) Perrot und Natalcs Briavoine (zwei
in Belgien ansäßige Franzosen). Vor allem aber verdient ein klei¬
nes Häuflein von Männern Erwähnung, die ihr ganzes Leben der
Forschung und Abhülfe der Nachtseiten unserer socialen Verhältnisse
widmen; so Ducpetiaur mit seinen zahlreichen Beobachtungen
über Gefängnißwesen und Sträflinge, De Decker mit seiner Arbeit
über Pfand- und Leihhäuser, Visserö über die Grubenarbeiter
u. s. w. Der praktische Sinn der Belgier, die Zugänglichkeit zu
allen Dokumenten und die unbeschränkte Oeffentlichkeit begünstigen
diese höchst wohlthätigen und erfolgreichen Arbeiten ganz besonders.

So fruchtbar und rührig diese Zweige schriftstellenscher Thä¬
tigkeit sich zeigen, so steril, blüthen- und früchteloS ist hier das Ge¬
biet der schonen Literatur. Es giebt im heutigen Europa kaum ein
Land, welchem der Gott der Dichtung, ja selbst der untergeordnete
Geist poetischer Erfindungsgabe so hartnäckig den Rücken kehrt.
Selbst die Lyrik, jener Urquell, der sogar bei rohen Nationen die
dichterischen Springbrunnen treibt, versiegt hier. Nur in jenen
Strecken, wo sich germanischer Geist und Sprachlaut noch festge¬
klammert haben, findet die lyrische Poesie, die ewige Braut germa¬
nischer Volker, einige begabte Jünger: Ledegank, Van Duyse,
Van Ryswyk und ähnliche flamändische Dichter haben manches
schöne Lied, manche kräftige Romanze gedichtet, und das wunderbar
geschickte, ächt weibliche Talent der Darmstävterin Louise von Plv-
nies hat einige der schönsten in's Hochdeutsche übersetzt und sie der
Nation zugeführt, der sie ihrem Geiste und Urströmung nach ange¬
hören. Die belgisch-französische Literatur hingegen -- und diese ist
es zumeist, die wir hier im Auge haben -- hat auch auf diesem
Gebiete nichts aufzuweisen. -- Was hier gesagt wird, ist nicht der
Ausfluß deutscher Parteilichkeit; der Verfasser dieses Buches zählt
unter den französtschschreibenden Schriftstellern Belgiens manchen lie¬
ben Bekannten, manchen lieben Freund sogar, dem er gerne hier ein
Wort der Anerkennung, der Theilnahme schenken würde, wenn nicht
die Wahrheit ihm über allen persönlichen Verhältnissen stünde. Wenn
schon die französische Lyrik dem deutschen Geschmacke überhaupt nicht
zusagt, so gesellt sich bei den Belgiern noch eine Uebertreibung jenes
falschen Pathos hinzu, die auch den kleinsten Funken von Naivetät
und Ursprünglichkeit verwischt. Die Belgier haben einen überwie-


(gegenwärtig Minister) Perrot und Natalcs Briavoine (zwei
in Belgien ansäßige Franzosen). Vor allem aber verdient ein klei¬
nes Häuflein von Männern Erwähnung, die ihr ganzes Leben der
Forschung und Abhülfe der Nachtseiten unserer socialen Verhältnisse
widmen; so Ducpetiaur mit seinen zahlreichen Beobachtungen
über Gefängnißwesen und Sträflinge, De Decker mit seiner Arbeit
über Pfand- und Leihhäuser, Visserö über die Grubenarbeiter
u. s. w. Der praktische Sinn der Belgier, die Zugänglichkeit zu
allen Dokumenten und die unbeschränkte Oeffentlichkeit begünstigen
diese höchst wohlthätigen und erfolgreichen Arbeiten ganz besonders.

So fruchtbar und rührig diese Zweige schriftstellenscher Thä¬
tigkeit sich zeigen, so steril, blüthen- und früchteloS ist hier das Ge¬
biet der schonen Literatur. Es giebt im heutigen Europa kaum ein
Land, welchem der Gott der Dichtung, ja selbst der untergeordnete
Geist poetischer Erfindungsgabe so hartnäckig den Rücken kehrt.
Selbst die Lyrik, jener Urquell, der sogar bei rohen Nationen die
dichterischen Springbrunnen treibt, versiegt hier. Nur in jenen
Strecken, wo sich germanischer Geist und Sprachlaut noch festge¬
klammert haben, findet die lyrische Poesie, die ewige Braut germa¬
nischer Volker, einige begabte Jünger: Ledegank, Van Duyse,
Van Ryswyk und ähnliche flamändische Dichter haben manches
schöne Lied, manche kräftige Romanze gedichtet, und das wunderbar
geschickte, ächt weibliche Talent der Darmstävterin Louise von Plv-
nies hat einige der schönsten in's Hochdeutsche übersetzt und sie der
Nation zugeführt, der sie ihrem Geiste und Urströmung nach ange¬
hören. Die belgisch-französische Literatur hingegen — und diese ist
es zumeist, die wir hier im Auge haben — hat auch auf diesem
Gebiete nichts aufzuweisen. — Was hier gesagt wird, ist nicht der
Ausfluß deutscher Parteilichkeit; der Verfasser dieses Buches zählt
unter den französtschschreibenden Schriftstellern Belgiens manchen lie¬
ben Bekannten, manchen lieben Freund sogar, dem er gerne hier ein
Wort der Anerkennung, der Theilnahme schenken würde, wenn nicht
die Wahrheit ihm über allen persönlichen Verhältnissen stünde. Wenn
schon die französische Lyrik dem deutschen Geschmacke überhaupt nicht
zusagt, so gesellt sich bei den Belgiern noch eine Uebertreibung jenes
falschen Pathos hinzu, die auch den kleinsten Funken von Naivetät
und Ursprünglichkeit verwischt. Die Belgier haben einen überwie-


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[0114] (gegenwärtig Minister) Perrot und Natalcs Briavoine (zwei in Belgien ansäßige Franzosen). Vor allem aber verdient ein klei¬ nes Häuflein von Männern Erwähnung, die ihr ganzes Leben der Forschung und Abhülfe der Nachtseiten unserer socialen Verhältnisse widmen; so Ducpetiaur mit seinen zahlreichen Beobachtungen über Gefängnißwesen und Sträflinge, De Decker mit seiner Arbeit über Pfand- und Leihhäuser, Visserö über die Grubenarbeiter u. s. w. Der praktische Sinn der Belgier, die Zugänglichkeit zu allen Dokumenten und die unbeschränkte Oeffentlichkeit begünstigen diese höchst wohlthätigen und erfolgreichen Arbeiten ganz besonders. So fruchtbar und rührig diese Zweige schriftstellenscher Thä¬ tigkeit sich zeigen, so steril, blüthen- und früchteloS ist hier das Ge¬ biet der schonen Literatur. Es giebt im heutigen Europa kaum ein Land, welchem der Gott der Dichtung, ja selbst der untergeordnete Geist poetischer Erfindungsgabe so hartnäckig den Rücken kehrt. Selbst die Lyrik, jener Urquell, der sogar bei rohen Nationen die dichterischen Springbrunnen treibt, versiegt hier. Nur in jenen Strecken, wo sich germanischer Geist und Sprachlaut noch festge¬ klammert haben, findet die lyrische Poesie, die ewige Braut germa¬ nischer Volker, einige begabte Jünger: Ledegank, Van Duyse, Van Ryswyk und ähnliche flamändische Dichter haben manches schöne Lied, manche kräftige Romanze gedichtet, und das wunderbar geschickte, ächt weibliche Talent der Darmstävterin Louise von Plv- nies hat einige der schönsten in's Hochdeutsche übersetzt und sie der Nation zugeführt, der sie ihrem Geiste und Urströmung nach ange¬ hören. Die belgisch-französische Literatur hingegen — und diese ist es zumeist, die wir hier im Auge haben — hat auch auf diesem Gebiete nichts aufzuweisen. — Was hier gesagt wird, ist nicht der Ausfluß deutscher Parteilichkeit; der Verfasser dieses Buches zählt unter den französtschschreibenden Schriftstellern Belgiens manchen lie¬ ben Bekannten, manchen lieben Freund sogar, dem er gerne hier ein Wort der Anerkennung, der Theilnahme schenken würde, wenn nicht die Wahrheit ihm über allen persönlichen Verhältnissen stünde. Wenn schon die französische Lyrik dem deutschen Geschmacke überhaupt nicht zusagt, so gesellt sich bei den Belgiern noch eine Uebertreibung jenes falschen Pathos hinzu, die auch den kleinsten Funken von Naivetät und Ursprünglichkeit verwischt. Die Belgier haben einen überwie-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/114>, abgerufen am 05.02.2025.