Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.und man möchte Krokodilthränen weinen, wenn man sieht, daß sie -- Unlängst kam im englischen Unterhaus die Bricferöffnungssache -- Schon vor einigen Monaten hörte man, Sylvester Jordan sei und man möchte Krokodilthränen weinen, wenn man sieht, daß sie — Unlängst kam im englischen Unterhaus die Bricferöffnungssache — Schon vor einigen Monaten hörte man, Sylvester Jordan sei <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0635" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/270050"/> <p xml:id="ID_1785" prev="#ID_1784"> und man möchte Krokodilthränen weinen, wenn man sieht, daß sie<lb/> nicht einmal die Renegaten mehr köpfen darf. Eben so klagen die<lb/> griechischen und armenischen Christen, daß sie ihrerseits die Renegaten nicht<lb/> mehr wahnsinnig erklaren und lebenslänglich einsperren dürfen. (Factisch!)<lb/> So schwer wird Beiden, Christen und Türken, das Bischen Toleranz. —<lb/> Auf Reschid Pascha's Seite steht „die junge Türkei", die aber für<lb/> unnational und unhistorisch gilt. „So schwanke ich," sagte der tief¬<lb/> blickende Sultan Abdulmedschid, „zwischen zwei Heubündeln. Die<lb/> Gründlichen sind wie die Menschenfresser und die Menschenfreundlichen<lb/> sind so flach!"</p><lb/> <p xml:id="ID_1786"> — Unlängst kam im englischen Unterhaus die Bricferöffnungssache<lb/> wieder auf's Tapet. Eine unserer großen Zeitungen betonte sehr auf¬<lb/> fallend: das freie England! Dies sollte ein leiser Triumph sein und<lb/> heißen: Die Ihr von Freiheit faselt, seht, in England ist's tont<lb/> comme cke? nous. — Allerdings im freien England ließ ein Mini¬<lb/> ster einigen zwanzig Leuten ihre Briefe erbrechen. Aber ein polnischer<lb/> und ein italienischer Flüchtling ließen diesen Minister im Unterhaus zur<lb/> Verantwortung ziehen; das ist wohl auch tout comme c>>e/. nous?<lb/> Der Minister gestand offen sein Verfahren ein und berief sich dabei<lb/> auf eine bestehende Vollmacht, sowie auf die dringendste politische Noth¬<lb/> wendigkeitist das vielleicht Wut eommv alle? »mis ? Ganz England<lb/> petitionicte, die großen Blätter agitirten gegen den Mißbrauch, — un¬<lb/> sere Allgemeinen Zeitungen werden es wohl auch so machen? Endlich<lb/> beschloß die Regierung, das geheime Postcabinet aufzuheben, — und<lb/> das ist gewiß auch tout commv et.e? nous!</p><lb/> <p xml:id="ID_1787"> — Schon vor einigen Monaten hörte man, Sylvester Jordan sei<lb/> von der Instanz losgesprochen. Das Gerücht verlor sich wieder; ein<lb/> Deutscher muß Geduld haben. Jetzt endlich kehrt es wieder, reducirc<lb/> sich aber darauf: Vom Obcrappellationsgericht kam der Befehl an<lb/> den Marburger Kriminalsenat, den Prof. Jordan, der in dem dortigen<lb/> Schloß gefangen sitzt, auf freien Fuß zu setzen gegen eine Caution<lb/> von 2W0 Thlrn. und gegen das Ehrenwort, daß er das Weichbild<lb/> der Stadt bis zur Erlassung des Endurtheils nicht verlassen werde. —<lb/> Wann aber wird das Endurtheil erlassen werden? — Und dieses End¬<lb/> urtheil ist am Ende nur eine Lossprechung von der Instanz d. h.<lb/> Jordan bleibt stumm für die Kammer, stumm für den Lehrstuhl; er<lb/> ist unschädlich gemacht. — Unschädlich hat den armen Jordan wohl<lb/> schon der Kerker gemacht, der Untergang seiner Familie, die Zerrür-<lb/> t ng seiner Gesundheit. Fast könnte Einen seine Freisprechung nicht<lb/> mehr freuen; denn wer weiß, ob er nicht frei wird, blos um nicht<lb/> im Gefängniß zu sterben.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0635]
und man möchte Krokodilthränen weinen, wenn man sieht, daß sie
nicht einmal die Renegaten mehr köpfen darf. Eben so klagen die
griechischen und armenischen Christen, daß sie ihrerseits die Renegaten nicht
mehr wahnsinnig erklaren und lebenslänglich einsperren dürfen. (Factisch!)
So schwer wird Beiden, Christen und Türken, das Bischen Toleranz. —
Auf Reschid Pascha's Seite steht „die junge Türkei", die aber für
unnational und unhistorisch gilt. „So schwanke ich," sagte der tief¬
blickende Sultan Abdulmedschid, „zwischen zwei Heubündeln. Die
Gründlichen sind wie die Menschenfresser und die Menschenfreundlichen
sind so flach!"
— Unlängst kam im englischen Unterhaus die Bricferöffnungssache
wieder auf's Tapet. Eine unserer großen Zeitungen betonte sehr auf¬
fallend: das freie England! Dies sollte ein leiser Triumph sein und
heißen: Die Ihr von Freiheit faselt, seht, in England ist's tont
comme cke? nous. — Allerdings im freien England ließ ein Mini¬
ster einigen zwanzig Leuten ihre Briefe erbrechen. Aber ein polnischer
und ein italienischer Flüchtling ließen diesen Minister im Unterhaus zur
Verantwortung ziehen; das ist wohl auch tout comme c>>e/. nous?
Der Minister gestand offen sein Verfahren ein und berief sich dabei
auf eine bestehende Vollmacht, sowie auf die dringendste politische Noth¬
wendigkeitist das vielleicht Wut eommv alle? »mis ? Ganz England
petitionicte, die großen Blätter agitirten gegen den Mißbrauch, — un¬
sere Allgemeinen Zeitungen werden es wohl auch so machen? Endlich
beschloß die Regierung, das geheime Postcabinet aufzuheben, — und
das ist gewiß auch tout commv et.e? nous!
— Schon vor einigen Monaten hörte man, Sylvester Jordan sei
von der Instanz losgesprochen. Das Gerücht verlor sich wieder; ein
Deutscher muß Geduld haben. Jetzt endlich kehrt es wieder, reducirc
sich aber darauf: Vom Obcrappellationsgericht kam der Befehl an
den Marburger Kriminalsenat, den Prof. Jordan, der in dem dortigen
Schloß gefangen sitzt, auf freien Fuß zu setzen gegen eine Caution
von 2W0 Thlrn. und gegen das Ehrenwort, daß er das Weichbild
der Stadt bis zur Erlassung des Endurtheils nicht verlassen werde. —
Wann aber wird das Endurtheil erlassen werden? — Und dieses End¬
urtheil ist am Ende nur eine Lossprechung von der Instanz d. h.
Jordan bleibt stumm für die Kammer, stumm für den Lehrstuhl; er
ist unschädlich gemacht. — Unschädlich hat den armen Jordan wohl
schon der Kerker gemacht, der Untergang seiner Familie, die Zerrür-
t ng seiner Gesundheit. Fast könnte Einen seine Freisprechung nicht
mehr freuen; denn wer weiß, ob er nicht frei wird, blos um nicht
im Gefängniß zu sterben.
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