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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Ueber die Lügen unserer Zeit.



i.

Unsere Zeit, so reich an Parteiungen, wie nur je eine früher in
der Weltgeschichte, ist eben so reich an Stichwörtcrn, an denen die
Parteien ihre Unterscheidung suchen. Parteien sind nie der Wahr¬
heit besonders hold, wenn gleich ihr Kampf nicht selten dieselbe an's
Licht fördert. Es ist ihr Unglück (zuweilen auch ihr Glück), daß
ihre Stellung sie nöthigt, weiter, als sie wollten, und es für ihre
eigentlichen Zwecke taugen mag, ihre Prinzipien auszudehnen, denn
Consequenz ist noch das Einzige, was eine Partei zusammenhalten
kann. Sobald sie ihren Weg verläßt, d. h. sobald sie in irgend einer
Richtung von demselben abweicht, legt sie dem Verfolgen ihres Ziels
selbst ein Hinderniß in den Weg und befördert nur ihre Auflösung
und ihren Untergang. So gewiß dies ist, so gewöhnlich ist doch
eine solche Erscheinung in der Geschichte. Nicht selten kommt es
vor, daß eine bis zu einem gewissen Grade glückliche Partei plötzlich
zurückgedrängt wird, weil sie stillestand oder eine falsche Richtung
einschlug. Die großartigsten Ideen sind dadurch gehemmt, die herr¬
lichsten Pläne gescheitert, und oft ist dem Unverstand, der Bosheit
und dadurch dem Verderben Thor und Thür geöffnet wor¬
den. Das ruhmwürdigste Werk Deutschlands, die Reformation, sie,
der es gelang, verjährte Fesseln zu brechen, an deren Zerstörung seit
Jahrhunderten die mächtigsten Kaiser, die klügsten Köpfe vergebens
gearbeitet hatten, warum mußte sie im Lande ihrer Geburt nicht blos
stille stehen, sondern noch dazu schon erobertes Feld sich entreißen
lassen? Sie hatte aufgehört, ihren Prinzipien treu zu sein, sie hatte
schon früh begonnen, selbst der Geistesfreiheit Schranken zu setzen und
für einen viele Päpste aufzustellen. Warum ist sie in unsern Tagen


Ueber die Lügen unserer Zeit.



i.

Unsere Zeit, so reich an Parteiungen, wie nur je eine früher in
der Weltgeschichte, ist eben so reich an Stichwörtcrn, an denen die
Parteien ihre Unterscheidung suchen. Parteien sind nie der Wahr¬
heit besonders hold, wenn gleich ihr Kampf nicht selten dieselbe an's
Licht fördert. Es ist ihr Unglück (zuweilen auch ihr Glück), daß
ihre Stellung sie nöthigt, weiter, als sie wollten, und es für ihre
eigentlichen Zwecke taugen mag, ihre Prinzipien auszudehnen, denn
Consequenz ist noch das Einzige, was eine Partei zusammenhalten
kann. Sobald sie ihren Weg verläßt, d. h. sobald sie in irgend einer
Richtung von demselben abweicht, legt sie dem Verfolgen ihres Ziels
selbst ein Hinderniß in den Weg und befördert nur ihre Auflösung
und ihren Untergang. So gewiß dies ist, so gewöhnlich ist doch
eine solche Erscheinung in der Geschichte. Nicht selten kommt es
vor, daß eine bis zu einem gewissen Grade glückliche Partei plötzlich
zurückgedrängt wird, weil sie stillestand oder eine falsche Richtung
einschlug. Die großartigsten Ideen sind dadurch gehemmt, die herr¬
lichsten Pläne gescheitert, und oft ist dem Unverstand, der Bosheit
und dadurch dem Verderben Thor und Thür geöffnet wor¬
den. Das ruhmwürdigste Werk Deutschlands, die Reformation, sie,
der es gelang, verjährte Fesseln zu brechen, an deren Zerstörung seit
Jahrhunderten die mächtigsten Kaiser, die klügsten Köpfe vergebens
gearbeitet hatten, warum mußte sie im Lande ihrer Geburt nicht blos
stille stehen, sondern noch dazu schon erobertes Feld sich entreißen
lassen? Sie hatte aufgehört, ihren Prinzipien treu zu sein, sie hatte
schon früh begonnen, selbst der Geistesfreiheit Schranken zu setzen und
für einen viele Päpste aufzustellen. Warum ist sie in unsern Tagen


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[0603] Ueber die Lügen unserer Zeit. i. Unsere Zeit, so reich an Parteiungen, wie nur je eine früher in der Weltgeschichte, ist eben so reich an Stichwörtcrn, an denen die Parteien ihre Unterscheidung suchen. Parteien sind nie der Wahr¬ heit besonders hold, wenn gleich ihr Kampf nicht selten dieselbe an's Licht fördert. Es ist ihr Unglück (zuweilen auch ihr Glück), daß ihre Stellung sie nöthigt, weiter, als sie wollten, und es für ihre eigentlichen Zwecke taugen mag, ihre Prinzipien auszudehnen, denn Consequenz ist noch das Einzige, was eine Partei zusammenhalten kann. Sobald sie ihren Weg verläßt, d. h. sobald sie in irgend einer Richtung von demselben abweicht, legt sie dem Verfolgen ihres Ziels selbst ein Hinderniß in den Weg und befördert nur ihre Auflösung und ihren Untergang. So gewiß dies ist, so gewöhnlich ist doch eine solche Erscheinung in der Geschichte. Nicht selten kommt es vor, daß eine bis zu einem gewissen Grade glückliche Partei plötzlich zurückgedrängt wird, weil sie stillestand oder eine falsche Richtung einschlug. Die großartigsten Ideen sind dadurch gehemmt, die herr¬ lichsten Pläne gescheitert, und oft ist dem Unverstand, der Bosheit und dadurch dem Verderben Thor und Thür geöffnet wor¬ den. Das ruhmwürdigste Werk Deutschlands, die Reformation, sie, der es gelang, verjährte Fesseln zu brechen, an deren Zerstörung seit Jahrhunderten die mächtigsten Kaiser, die klügsten Köpfe vergebens gearbeitet hatten, warum mußte sie im Lande ihrer Geburt nicht blos stille stehen, sondern noch dazu schon erobertes Feld sich entreißen lassen? Sie hatte aufgehört, ihren Prinzipien treu zu sein, sie hatte schon früh begonnen, selbst der Geistesfreiheit Schranken zu setzen und für einen viele Päpste aufzustellen. Warum ist sie in unsern Tagen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/603>, abgerufen am 22.07.2024.