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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Vl.
Notizen.

"Rococo oder die alten Herrn" auf der Leipziger Bühne. -- Marlinski. --
Prutz gefangen! -- Minkwitz und die verhängnißvolle Gabel. -- Brieflich aus
Prag. -- Germanien's Völkcrstimmcn von Firmenich. -- Hermann Kothe- --

-- Am 7. März ging hier Laube's "Rococo" zum ersten Mal
über die Bühne und bewährte sich als eine tüchtige Komödie, die höchst
fesselnd und anregend, wenn auch nicht immer erheiternd wirkt; die er¬
sten beiden Acte ließen vor lauter Spannung zu keinem freien Genuß
kommen, die letzten drei dagegen waren so blendend durch komische
und ernstere Effecte, daß ein allgemeiner, zuweilen stürmischer Beifall
sie bis an's Ende begleitete. Oft freilich weiß man nicht: will der
Autor durch dies kunstvolle Gewebe von Intriguen dich mit dem lie¬
benswürdigen leichten Lebensmuth des alten Frankreich erfüllen? dann
ist die Intrigue zu gehäuft, zu ernsthaft, zu derb; Intriguen, die um
Infamie oder Ehre, um Ruin oder Rettung gespielt werden, hören
auf komisch zu sein. Soll dieser Abgrund von Schlechtigkeit uns ein
Bild jenes -uicien re^ime geben, über welches die blutige Sündfluth
von Ä. 93 kommen mußte? Letztere Annahme ist wohl die richtige,
wie sich im 5. Acte zeigt; aber erst im b. Acte, die Wendung, welche
hier der Geist des Stückes nimmt, fanden wir zu wenig vorbereitet.
Abgesehen von diesen etwas unvermittelter grellen Farben des Stückes,
ist Rococo sowohl durch Situationen wie durch Charaktere ungemein
wirksam; viele große und kleine Scenen sind meisterhaft gearbeitet; die
Figuren; sind voll Leben und beziehungsreichem Ausdruck. Die Pompaoour
und das naive Kind Melanie, der scheinheilige Abbe und der simple Ba¬
ron Gerard, halb Cavalier, halb Industrie!, der Parlamcntsrath endlich,
seiner nichtssagenden hohlen Ehrbarkeit, ein Repräsentant der künstigen
Philisteraristokratie, geben ein trefflich abgerundetes Zeitgemälde. UeberAlle
ragt jedoch der Marquis von Brissac hervor, ein echter Edelmann vom
altfranzösischen Schlag, durch den man am meisten vom Humor des
Rococo wegbekommt. Herzliche Komik entwickelt Tulpe; dafür schie¬
nen uns Victor, der natürliche, und Prosper, der eheliche Sohn des
Parlamcntsraths, gar zu unbedeutend. Ueberhaupt ist die Licht- und
Gegenseite zu den frivolen "alten Herrn" etwas schwach vertreten.--
Die Darstellung war eine der besten, welche die neue Leipziger Bühne
bis jetzt zu Stande brachte. Marr als Marquis und Meirner als
Abb<! zeichneten sich durch Auffassung und Durchführung ihrer Rollen
besonders aus; Frim. Baumeister als Melanie, Frau Dessoir als
Pompaoour, Ballmann als Baron Gerard, Berthold als Tulpe,
Stürmer als Parlamentsrath u. s. w. bildeten ein treffliches Ensemble,
um welches Marr als Regisseur noch ein Extraverdienst hat. Wäre
die Leipziger Bühne in der Tragödie so gut beschlagen, wie sie sich


Vl.
Notizen.

„Rococo oder die alten Herrn" auf der Leipziger Bühne. — Marlinski. —
Prutz gefangen! — Minkwitz und die verhängnißvolle Gabel. — Brieflich aus
Prag. — Germanien's Völkcrstimmcn von Firmenich. — Hermann Kothe- —

— Am 7. März ging hier Laube's „Rococo" zum ersten Mal
über die Bühne und bewährte sich als eine tüchtige Komödie, die höchst
fesselnd und anregend, wenn auch nicht immer erheiternd wirkt; die er¬
sten beiden Acte ließen vor lauter Spannung zu keinem freien Genuß
kommen, die letzten drei dagegen waren so blendend durch komische
und ernstere Effecte, daß ein allgemeiner, zuweilen stürmischer Beifall
sie bis an's Ende begleitete. Oft freilich weiß man nicht: will der
Autor durch dies kunstvolle Gewebe von Intriguen dich mit dem lie¬
benswürdigen leichten Lebensmuth des alten Frankreich erfüllen? dann
ist die Intrigue zu gehäuft, zu ernsthaft, zu derb; Intriguen, die um
Infamie oder Ehre, um Ruin oder Rettung gespielt werden, hören
auf komisch zu sein. Soll dieser Abgrund von Schlechtigkeit uns ein
Bild jenes -uicien re^ime geben, über welches die blutige Sündfluth
von Ä. 93 kommen mußte? Letztere Annahme ist wohl die richtige,
wie sich im 5. Acte zeigt; aber erst im b. Acte, die Wendung, welche
hier der Geist des Stückes nimmt, fanden wir zu wenig vorbereitet.
Abgesehen von diesen etwas unvermittelter grellen Farben des Stückes,
ist Rococo sowohl durch Situationen wie durch Charaktere ungemein
wirksam; viele große und kleine Scenen sind meisterhaft gearbeitet; die
Figuren; sind voll Leben und beziehungsreichem Ausdruck. Die Pompaoour
und das naive Kind Melanie, der scheinheilige Abbe und der simple Ba¬
ron Gerard, halb Cavalier, halb Industrie!, der Parlamcntsrath endlich,
seiner nichtssagenden hohlen Ehrbarkeit, ein Repräsentant der künstigen
Philisteraristokratie, geben ein trefflich abgerundetes Zeitgemälde. UeberAlle
ragt jedoch der Marquis von Brissac hervor, ein echter Edelmann vom
altfranzösischen Schlag, durch den man am meisten vom Humor des
Rococo wegbekommt. Herzliche Komik entwickelt Tulpe; dafür schie¬
nen uns Victor, der natürliche, und Prosper, der eheliche Sohn des
Parlamcntsraths, gar zu unbedeutend. Ueberhaupt ist die Licht- und
Gegenseite zu den frivolen „alten Herrn" etwas schwach vertreten.—
Die Darstellung war eine der besten, welche die neue Leipziger Bühne
bis jetzt zu Stande brachte. Marr als Marquis und Meirner als
Abb<! zeichneten sich durch Auffassung und Durchführung ihrer Rollen
besonders aus; Frim. Baumeister als Melanie, Frau Dessoir als
Pompaoour, Ballmann als Baron Gerard, Berthold als Tulpe,
Stürmer als Parlamentsrath u. s. w. bildeten ein treffliches Ensemble,
um welches Marr als Regisseur noch ein Extraverdienst hat. Wäre
die Leipziger Bühne in der Tragödie so gut beschlagen, wie sie sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/588>, abgerufen am 22.07.2024.