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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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i.
Aus Wien.

Moritz von Sachsen, aufgeführt. -- Für Herrn Holbein. -- Der Schutzverein
für entlassene Sträflinge. -- Nothwendigkeit einer Gcfcingnißreform. -- Nikolai
und die philharmonischen Concerte. -- Saphir's funfzigster Geburtstag. --

Moritz von' Sachsen ist nun wirklich zum Benefize der Regie
im Hosburgtheater über die Bretter geschritten mit demjenigen Beifall,
den ich in meinem letzten Schreiben diesem Stücke prophezeiht hatte.
Als Drama hat es wenig Erfolg errungen, wohl aber als Tcndenz-
stück, und in diesem Artikel laßt sich hier noch viel thun. Ein hie¬
siger Kritiker nennt es eine illustrirte Zeitung mit historischen Holz¬
schnitten, und in der That scheint der Dialog aus den Aeirungsspal-
ten, die Personen aber der deutschen Geschichte entnommen zu sein.
An diesem unversöhnten Dualismus von Wort und Namen leidet das
Ganze. Kaum glaubt einmal der Zuschauer in den kirchlichen und
politischen Zerwürfnissen des sechszehnten Jahrhunderts zu leben, so
steht er auch schon wieder den politischen Sänger mit seinen Rhein¬
liedsphrasen aus die Bühne stürzen, und alle Illusion ist verschwunden.
Der Moritz hat zu viel in den Gedichten von Herwegh, Freiligrath
und Prutz gelesen, und an manchen Stellen glaubt man wirklich, er
strebe nicht nach dem sächsischen Kurhut, sondern nach der aufgekün¬
digten (?) Pension des Nikolaus Becker in Köln; seine Aeußerungen
schmecken gar zu oft nach Toastsprüchen und Aweckessensrcden, und der
Egoist wirft fortwährend mit Worten umher, die im grellsten
Widerspruch mit der kalten Berechnung und dem eisigen Jndifferentis-
mus seiner Handlungen stehen. Uebersieht man die Mängel der Cha¬
rakteristik, wie es zum Theil auch das Publicum that, so bleibt noch
viel des Guten übrig. Aus dem ersten Aufzuge zumal weht der
frische Odem deutschen Geschichtslebens, und der Dichter verstand es
vortrefflich, uns ohne Umschweife in den Mittelpunkt der Zeit zu stel¬
len. Großes Gelächter erregte die Scene, wo der Narr Kunz von
Rosenberg erstochen wird und im Tode jubelt, daß die Feinde sich ge¬
irrt und nur ihn umgebracht und nicht den Kaiser, der bereits ent¬
flohen; dieser Grad von Loyalität befremdet heutzutage selbst an einem
Hofnarren, Eine schöne Intention leuchtet aus der Figur der Elisa-


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i.
Aus Wien.

Moritz von Sachsen, aufgeführt. — Für Herrn Holbein. — Der Schutzverein
für entlassene Sträflinge. — Nothwendigkeit einer Gcfcingnißreform. — Nikolai
und die philharmonischen Concerte. — Saphir's funfzigster Geburtstag. —

Moritz von' Sachsen ist nun wirklich zum Benefize der Regie
im Hosburgtheater über die Bretter geschritten mit demjenigen Beifall,
den ich in meinem letzten Schreiben diesem Stücke prophezeiht hatte.
Als Drama hat es wenig Erfolg errungen, wohl aber als Tcndenz-
stück, und in diesem Artikel laßt sich hier noch viel thun. Ein hie¬
siger Kritiker nennt es eine illustrirte Zeitung mit historischen Holz¬
schnitten, und in der That scheint der Dialog aus den Aeirungsspal-
ten, die Personen aber der deutschen Geschichte entnommen zu sein.
An diesem unversöhnten Dualismus von Wort und Namen leidet das
Ganze. Kaum glaubt einmal der Zuschauer in den kirchlichen und
politischen Zerwürfnissen des sechszehnten Jahrhunderts zu leben, so
steht er auch schon wieder den politischen Sänger mit seinen Rhein¬
liedsphrasen aus die Bühne stürzen, und alle Illusion ist verschwunden.
Der Moritz hat zu viel in den Gedichten von Herwegh, Freiligrath
und Prutz gelesen, und an manchen Stellen glaubt man wirklich, er
strebe nicht nach dem sächsischen Kurhut, sondern nach der aufgekün¬
digten (?) Pension des Nikolaus Becker in Köln; seine Aeußerungen
schmecken gar zu oft nach Toastsprüchen und Aweckessensrcden, und der
Egoist wirft fortwährend mit Worten umher, die im grellsten
Widerspruch mit der kalten Berechnung und dem eisigen Jndifferentis-
mus seiner Handlungen stehen. Uebersieht man die Mängel der Cha¬
rakteristik, wie es zum Theil auch das Publicum that, so bleibt noch
viel des Guten übrig. Aus dem ersten Aufzuge zumal weht der
frische Odem deutschen Geschichtslebens, und der Dichter verstand es
vortrefflich, uns ohne Umschweife in den Mittelpunkt der Zeit zu stel¬
len. Großes Gelächter erregte die Scene, wo der Narr Kunz von
Rosenberg erstochen wird und im Tode jubelt, daß die Feinde sich ge¬
irrt und nur ihn umgebracht und nicht den Kaiser, der bereits ent¬
flohen; dieser Grad von Loyalität befremdet heutzutage selbst an einem
Hofnarren, Eine schöne Intention leuchtet aus der Figur der Elisa-


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[0536] T a g e b u eh. i. Aus Wien. Moritz von Sachsen, aufgeführt. — Für Herrn Holbein. — Der Schutzverein für entlassene Sträflinge. — Nothwendigkeit einer Gcfcingnißreform. — Nikolai und die philharmonischen Concerte. — Saphir's funfzigster Geburtstag. — Moritz von' Sachsen ist nun wirklich zum Benefize der Regie im Hosburgtheater über die Bretter geschritten mit demjenigen Beifall, den ich in meinem letzten Schreiben diesem Stücke prophezeiht hatte. Als Drama hat es wenig Erfolg errungen, wohl aber als Tcndenz- stück, und in diesem Artikel laßt sich hier noch viel thun. Ein hie¬ siger Kritiker nennt es eine illustrirte Zeitung mit historischen Holz¬ schnitten, und in der That scheint der Dialog aus den Aeirungsspal- ten, die Personen aber der deutschen Geschichte entnommen zu sein. An diesem unversöhnten Dualismus von Wort und Namen leidet das Ganze. Kaum glaubt einmal der Zuschauer in den kirchlichen und politischen Zerwürfnissen des sechszehnten Jahrhunderts zu leben, so steht er auch schon wieder den politischen Sänger mit seinen Rhein¬ liedsphrasen aus die Bühne stürzen, und alle Illusion ist verschwunden. Der Moritz hat zu viel in den Gedichten von Herwegh, Freiligrath und Prutz gelesen, und an manchen Stellen glaubt man wirklich, er strebe nicht nach dem sächsischen Kurhut, sondern nach der aufgekün¬ digten (?) Pension des Nikolaus Becker in Köln; seine Aeußerungen schmecken gar zu oft nach Toastsprüchen und Aweckessensrcden, und der Egoist wirft fortwährend mit Worten umher, die im grellsten Widerspruch mit der kalten Berechnung und dem eisigen Jndifferentis- mus seiner Handlungen stehen. Uebersieht man die Mängel der Cha¬ rakteristik, wie es zum Theil auch das Publicum that, so bleibt noch viel des Guten übrig. Aus dem ersten Aufzuge zumal weht der frische Odem deutschen Geschichtslebens, und der Dichter verstand es vortrefflich, uns ohne Umschweife in den Mittelpunkt der Zeit zu stel¬ len. Großes Gelächter erregte die Scene, wo der Narr Kunz von Rosenberg erstochen wird und im Tode jubelt, daß die Feinde sich ge¬ irrt und nur ihn umgebracht und nicht den Kaiser, der bereits ent¬ flohen; dieser Grad von Loyalität befremdet heutzutage selbst an einem Hofnarren, Eine schöne Intention leuchtet aus der Figur der Elisa-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/536>, abgerufen am 26.06.2024.