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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Tage kamen, gingen eben so; die Wellen wurden wieder ruhig und
abermals wieder stürmisch; aber daS Boot trieb noch immer auf
dem Meer umher. Wo mochte die Heimath, wo mochte ein Land
sein? Sollten sie Alle hier Hungers sterben und kam kein Schiff
des Weges?

Aber auf der kurischen Nordspitze herrschte während dieser Zeit
großer Jammer. Denn die übrigen drei Böte waren zurückgekom¬
men und wußten Nichts vom vierten zu erzählen. Der Tod deö In¬
spektors und seiner Genossen schien gewiß. Gleichzeitig trieben Plan¬
ken und Balken an'S Land; denn jenes Schiff war in der Unglücks¬
nacht mit aller Mannschaft untergegangen. Die Fran deö Jnspectors
im einsamen Hause weinte schmerzliche Wittwenthränen und die Be¬
hörde wählte bereits unter den Candidaten für seine Stelle. Da
auf einmal am 17. Tage nach jener Unglücksnacht landeten der In¬
spektor und seine drei Gefährten mit demselben Boote, auf welchem
sie hinausgefahren, an derselben Stelle, von welcher sie damals ab¬
stießen. Und Alle waren wohlbehalten. Denn am achten Tage ihrer,
entsetzlichen Seefahrt waren ihre Signale von einem vorbeisegelnden
Schiffe bemerkt worden und man hatte sie aufgenommen, gespeist,
getränkt, mit Kleidern versehen und dann im Hafen von Neval ab¬
gesetzt. Von dort aus hatten sie später, sowie die Schäden ihres
Bootes ausgebessert waren, auf demselben Fahrzeuge den Rückweg
genommen und das Meer hatte sie wohlbehalten hierher gebracht.
Drum sag' ich immer, endete der alte Erzähler -- das Meer ist
mein lieber Nachbar und der Sturm ist des Meeres, wie der Men¬
schen Feind. Nur wenn Meer und Sturm mit einander streiten, müs-
sen'S die Menschen manchmal büßen, wie immer die Kleinen beim
Kampfe der Großen am schlechtesten wegkommen.

Unter solchen Gesprächen und Erzählungen war die tiefe Nacht
herangerückt und zwischen die Pausen des Gespräches klang von drau¬
ßen ein Gesang. -- ^un" lizzko! l^i-zlw j-eka! ertönten die Worte.
Das ist der Sang der Letten und Liven in der Johannisnacht, deren
Feier noch aus urältcstcr Heidenzeit übrig geblieben; eS ist ein reines
Freudenfest, denn I^Ko war der Gott der Lust. Und wie die Thvr-
susschwinger, die Evovrufer des Alterthums tanzen und jauchzen und
singen die Letten und Liven diese ganze Nacht hindurch. Dabei ent¬
zünden sie große Feuer auf allen waldfreien Flächen und Anhöhen,


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Tage kamen, gingen eben so; die Wellen wurden wieder ruhig und
abermals wieder stürmisch; aber daS Boot trieb noch immer auf
dem Meer umher. Wo mochte die Heimath, wo mochte ein Land
sein? Sollten sie Alle hier Hungers sterben und kam kein Schiff
des Weges?

Aber auf der kurischen Nordspitze herrschte während dieser Zeit
großer Jammer. Denn die übrigen drei Böte waren zurückgekom¬
men und wußten Nichts vom vierten zu erzählen. Der Tod deö In¬
spektors und seiner Genossen schien gewiß. Gleichzeitig trieben Plan¬
ken und Balken an'S Land; denn jenes Schiff war in der Unglücks¬
nacht mit aller Mannschaft untergegangen. Die Fran deö Jnspectors
im einsamen Hause weinte schmerzliche Wittwenthränen und die Be¬
hörde wählte bereits unter den Candidaten für seine Stelle. Da
auf einmal am 17. Tage nach jener Unglücksnacht landeten der In¬
spektor und seine drei Gefährten mit demselben Boote, auf welchem
sie hinausgefahren, an derselben Stelle, von welcher sie damals ab¬
stießen. Und Alle waren wohlbehalten. Denn am achten Tage ihrer,
entsetzlichen Seefahrt waren ihre Signale von einem vorbeisegelnden
Schiffe bemerkt worden und man hatte sie aufgenommen, gespeist,
getränkt, mit Kleidern versehen und dann im Hafen von Neval ab¬
gesetzt. Von dort aus hatten sie später, sowie die Schäden ihres
Bootes ausgebessert waren, auf demselben Fahrzeuge den Rückweg
genommen und das Meer hatte sie wohlbehalten hierher gebracht.
Drum sag' ich immer, endete der alte Erzähler — das Meer ist
mein lieber Nachbar und der Sturm ist des Meeres, wie der Men¬
schen Feind. Nur wenn Meer und Sturm mit einander streiten, müs-
sen'S die Menschen manchmal büßen, wie immer die Kleinen beim
Kampfe der Großen am schlechtesten wegkommen.

Unter solchen Gesprächen und Erzählungen war die tiefe Nacht
herangerückt und zwischen die Pausen des Gespräches klang von drau¬
ßen ein Gesang. — ^un» lizzko! l^i-zlw j-eka! ertönten die Worte.
Das ist der Sang der Letten und Liven in der Johannisnacht, deren
Feier noch aus urältcstcr Heidenzeit übrig geblieben; eS ist ein reines
Freudenfest, denn I^Ko war der Gott der Lust. Und wie die Thvr-
susschwinger, die Evovrufer des Alterthums tanzen und jauchzen und
singen die Letten und Liven diese ganze Nacht hindurch. Dabei ent¬
zünden sie große Feuer auf allen waldfreien Flächen und Anhöhen,


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[0477] Tage kamen, gingen eben so; die Wellen wurden wieder ruhig und abermals wieder stürmisch; aber daS Boot trieb noch immer auf dem Meer umher. Wo mochte die Heimath, wo mochte ein Land sein? Sollten sie Alle hier Hungers sterben und kam kein Schiff des Weges? Aber auf der kurischen Nordspitze herrschte während dieser Zeit großer Jammer. Denn die übrigen drei Böte waren zurückgekom¬ men und wußten Nichts vom vierten zu erzählen. Der Tod deö In¬ spektors und seiner Genossen schien gewiß. Gleichzeitig trieben Plan¬ ken und Balken an'S Land; denn jenes Schiff war in der Unglücks¬ nacht mit aller Mannschaft untergegangen. Die Fran deö Jnspectors im einsamen Hause weinte schmerzliche Wittwenthränen und die Be¬ hörde wählte bereits unter den Candidaten für seine Stelle. Da auf einmal am 17. Tage nach jener Unglücksnacht landeten der In¬ spektor und seine drei Gefährten mit demselben Boote, auf welchem sie hinausgefahren, an derselben Stelle, von welcher sie damals ab¬ stießen. Und Alle waren wohlbehalten. Denn am achten Tage ihrer, entsetzlichen Seefahrt waren ihre Signale von einem vorbeisegelnden Schiffe bemerkt worden und man hatte sie aufgenommen, gespeist, getränkt, mit Kleidern versehen und dann im Hafen von Neval ab¬ gesetzt. Von dort aus hatten sie später, sowie die Schäden ihres Bootes ausgebessert waren, auf demselben Fahrzeuge den Rückweg genommen und das Meer hatte sie wohlbehalten hierher gebracht. Drum sag' ich immer, endete der alte Erzähler — das Meer ist mein lieber Nachbar und der Sturm ist des Meeres, wie der Men¬ schen Feind. Nur wenn Meer und Sturm mit einander streiten, müs- sen'S die Menschen manchmal büßen, wie immer die Kleinen beim Kampfe der Großen am schlechtesten wegkommen. Unter solchen Gesprächen und Erzählungen war die tiefe Nacht herangerückt und zwischen die Pausen des Gespräches klang von drau¬ ßen ein Gesang. — ^un» lizzko! l^i-zlw j-eka! ertönten die Worte. Das ist der Sang der Letten und Liven in der Johannisnacht, deren Feier noch aus urältcstcr Heidenzeit übrig geblieben; eS ist ein reines Freudenfest, denn I^Ko war der Gott der Lust. Und wie die Thvr- susschwinger, die Evovrufer des Alterthums tanzen und jauchzen und singen die Letten und Liven diese ganze Nacht hindurch. Dabei ent¬ zünden sie große Feuer auf allen waldfreien Flächen und Anhöhen, 60 »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/477>, abgerufen am 22.07.2024.