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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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er nun den Nothschrei der Unglücklichen, so fuhr er scheinbar zur
Rettung hinzu. Aber wer lebend in seine Hände fiel, wurde gemor'
det und die Ladung der Schiffe ward eine Piratenbeute. So trieb
er Jahre lang ein entsetzlich Gewerbe, ohne daß eine lebende Seele
ihn anklagen konnte, bis endlich einer seiner Mitschuldigen selbst ihn
verrieth. Er wurde nach Sibirien verbannt und jetzt, da kein Zeit¬
genosse mehr lebt, will sein Enkel den Prozeß gegen ihn revidiren
und seine Unschuld beweisen lassen. Ein mißliches Unternehmen, ein
überflüssig Bestreben! Das Volk wird dennoch die Traditionen der
Väter festhalten und jeder Schiffer, welcher in diesen Gegenden kreuzt,
wird sie den Bekannten erzählen und Niemand wird der späten Recht¬
fertigung glauben. Laßt die Todten ruhn!

Wenn man oben steht auf der Spitze des Leuchtthurmes zu Do-
mesnäs, verschwindet vorwärts und seitlich das Land am Fuße des¬
selben dem Blicke vollkommen. Nur die ungeheure, landeinwärts
mehr und mehr sich breitende Walddecke bleibt übrig. Aber sonst nur
Wellen und ringsum Todleneinsamkeit. Doch wunderschön erglänzte
an jenem Johannisvorabend, als wir dort oben standen, die ganze
Meeresfläche wie ein unabsehbar wallender Goldsec. Die letzten
Strahlen der Sonne zitterten über die Wogen hin und tausend Far¬
ben und tausend Lichter erglühten in ihrem Scheine. Dazu schäum¬
ten die Wogen brandend in einem langen schmalen Strich nordwärts
bis an den Horizont: denn dort hinaus streiten sie mit den Untiefen
der Sandbank. Und wo nur irgend diese auf Minuten zu Tage
kam, da glänzte es schneeweiß wie von Millionen flatternder Tücher;
denn auf diesen Stellen sammelten sich augenblicklich die unzählbaren
Schaaren der Möven. Und wenn das Auge angestrengt längs die¬
ser Sandbank und ihrer Brandung hinausblickte, so hob steh's am
fernsten, fernsten Ende des Meeres wie ein graulicher Punkt aus
dem Goldglanze. Denn man erblickt dort die Oeselsche Küste. Und
wenn man ostwärts schaut, in den Nigischen Busen hinein, über die
hundert flatternden, damals rosenrothen Segel der Schiffe und Schif-
serböte, so erkennt man ein zweites Jnselland noch deutlicher als jenes.
Das ist die Insel Rums, jenes kleine Eiland, das sich inmitten des
Busens hingelagert, jenes Eiland, welches, wie Kurlands Spitze, von
einer ganz selbständigen Nation bewohnt wird und die -- ein Wun¬
der in Rußland, ja in Europa -- unter vollkommen communisti'


er nun den Nothschrei der Unglücklichen, so fuhr er scheinbar zur
Rettung hinzu. Aber wer lebend in seine Hände fiel, wurde gemor'
det und die Ladung der Schiffe ward eine Piratenbeute. So trieb
er Jahre lang ein entsetzlich Gewerbe, ohne daß eine lebende Seele
ihn anklagen konnte, bis endlich einer seiner Mitschuldigen selbst ihn
verrieth. Er wurde nach Sibirien verbannt und jetzt, da kein Zeit¬
genosse mehr lebt, will sein Enkel den Prozeß gegen ihn revidiren
und seine Unschuld beweisen lassen. Ein mißliches Unternehmen, ein
überflüssig Bestreben! Das Volk wird dennoch die Traditionen der
Väter festhalten und jeder Schiffer, welcher in diesen Gegenden kreuzt,
wird sie den Bekannten erzählen und Niemand wird der späten Recht¬
fertigung glauben. Laßt die Todten ruhn!

Wenn man oben steht auf der Spitze des Leuchtthurmes zu Do-
mesnäs, verschwindet vorwärts und seitlich das Land am Fuße des¬
selben dem Blicke vollkommen. Nur die ungeheure, landeinwärts
mehr und mehr sich breitende Walddecke bleibt übrig. Aber sonst nur
Wellen und ringsum Todleneinsamkeit. Doch wunderschön erglänzte
an jenem Johannisvorabend, als wir dort oben standen, die ganze
Meeresfläche wie ein unabsehbar wallender Goldsec. Die letzten
Strahlen der Sonne zitterten über die Wogen hin und tausend Far¬
ben und tausend Lichter erglühten in ihrem Scheine. Dazu schäum¬
ten die Wogen brandend in einem langen schmalen Strich nordwärts
bis an den Horizont: denn dort hinaus streiten sie mit den Untiefen
der Sandbank. Und wo nur irgend diese auf Minuten zu Tage
kam, da glänzte es schneeweiß wie von Millionen flatternder Tücher;
denn auf diesen Stellen sammelten sich augenblicklich die unzählbaren
Schaaren der Möven. Und wenn das Auge angestrengt längs die¬
ser Sandbank und ihrer Brandung hinausblickte, so hob steh's am
fernsten, fernsten Ende des Meeres wie ein graulicher Punkt aus
dem Goldglanze. Denn man erblickt dort die Oeselsche Küste. Und
wenn man ostwärts schaut, in den Nigischen Busen hinein, über die
hundert flatternden, damals rosenrothen Segel der Schiffe und Schif-
serböte, so erkennt man ein zweites Jnselland noch deutlicher als jenes.
Das ist die Insel Rums, jenes kleine Eiland, das sich inmitten des
Busens hingelagert, jenes Eiland, welches, wie Kurlands Spitze, von
einer ganz selbständigen Nation bewohnt wird und die — ein Wun¬
der in Rußland, ja in Europa — unter vollkommen communisti'


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[0473] er nun den Nothschrei der Unglücklichen, so fuhr er scheinbar zur Rettung hinzu. Aber wer lebend in seine Hände fiel, wurde gemor' det und die Ladung der Schiffe ward eine Piratenbeute. So trieb er Jahre lang ein entsetzlich Gewerbe, ohne daß eine lebende Seele ihn anklagen konnte, bis endlich einer seiner Mitschuldigen selbst ihn verrieth. Er wurde nach Sibirien verbannt und jetzt, da kein Zeit¬ genosse mehr lebt, will sein Enkel den Prozeß gegen ihn revidiren und seine Unschuld beweisen lassen. Ein mißliches Unternehmen, ein überflüssig Bestreben! Das Volk wird dennoch die Traditionen der Väter festhalten und jeder Schiffer, welcher in diesen Gegenden kreuzt, wird sie den Bekannten erzählen und Niemand wird der späten Recht¬ fertigung glauben. Laßt die Todten ruhn! Wenn man oben steht auf der Spitze des Leuchtthurmes zu Do- mesnäs, verschwindet vorwärts und seitlich das Land am Fuße des¬ selben dem Blicke vollkommen. Nur die ungeheure, landeinwärts mehr und mehr sich breitende Walddecke bleibt übrig. Aber sonst nur Wellen und ringsum Todleneinsamkeit. Doch wunderschön erglänzte an jenem Johannisvorabend, als wir dort oben standen, die ganze Meeresfläche wie ein unabsehbar wallender Goldsec. Die letzten Strahlen der Sonne zitterten über die Wogen hin und tausend Far¬ ben und tausend Lichter erglühten in ihrem Scheine. Dazu schäum¬ ten die Wogen brandend in einem langen schmalen Strich nordwärts bis an den Horizont: denn dort hinaus streiten sie mit den Untiefen der Sandbank. Und wo nur irgend diese auf Minuten zu Tage kam, da glänzte es schneeweiß wie von Millionen flatternder Tücher; denn auf diesen Stellen sammelten sich augenblicklich die unzählbaren Schaaren der Möven. Und wenn das Auge angestrengt längs die¬ ser Sandbank und ihrer Brandung hinausblickte, so hob steh's am fernsten, fernsten Ende des Meeres wie ein graulicher Punkt aus dem Goldglanze. Denn man erblickt dort die Oeselsche Küste. Und wenn man ostwärts schaut, in den Nigischen Busen hinein, über die hundert flatternden, damals rosenrothen Segel der Schiffe und Schif- serböte, so erkennt man ein zweites Jnselland noch deutlicher als jenes. Das ist die Insel Rums, jenes kleine Eiland, das sich inmitten des Busens hingelagert, jenes Eiland, welches, wie Kurlands Spitze, von einer ganz selbständigen Nation bewohnt wird und die — ein Wun¬ der in Rußland, ja in Europa — unter vollkommen communisti'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/473>, abgerufen am 23.07.2024.