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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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heuern Fläche jenseits des rigi-chen Busens bis an die Ufer des
Sees ihren Namen ausprägten, sind sie jetzt hier auf einen klei¬
nen unwirthbaren Landstrich zurückgedrängt und bis zu etwa drei¬
hundert Familien zusammengeschmolzen. Aber diese Wenigen bilden
dennoch eine völlige Nation. Obschon sie von den Letten die Kleidung an¬
nahmen, den kurzen Rock und die kurzen Unterkleider, so haben sie doch
deren Lieblingsfarbe, ein charakterlos lichtes Grau, verschmäht. Sie klei¬
den sich in dunklere Stoffe. Jene tragen durchgängig sandalenartige
Schuhe, von Birkenbast geflochten, in denen das Sumpfwasser der Wiesen
und des Waldes herein- und herauslaufen kann; die Liven stecken in
hohen weiten Stiefeln, denn sie sind ein Volk des Seestrandes. Die
Letten bebauen den Acker und Hüten das Vieh: die Liven kennen
nur den Fischfang und den Verkehr auf dem Meere. -- Die Liven
sind jedoch auch kein schöner Menschenschlag. Vielhundertjährige Be¬
deutungslosigkeit hat sie verkümmert und selbst ihre intellectuellen An¬
lagen verwischt. Es ist ihnen ergangen, wie den Letten und Esthen,
nur noch in hoher", Grade. Die einst so kriegfertigen Letten, welche
den deutschen Rittern mannhaft entgegenstanden, sind schwächlich, feig,
hinterlistig geworden; die Liven stumpf, einsilbig, verschlossen. Doch
inniger als jene hielten sie an der Nationalität und eifersüchtiger an
ihrer Sprache fest. Jene gaben hier und da Beides um augenblick¬
liche Vortheile hin, sie speculirten mit Beiden,, um materielles Wohl¬
sein zu erreichen. Die Liven dagegen schlössen sich nur enger anein¬
ander, je mehr sie von Außen bedrängt waren; alle bewahrten ihre
Sprache als Eigenthum nur für sich und lehrten sie weder die Letten
noch die Deutschen. Aber Jeder von ihnen erlernte das Lettische,
um sich dessen im Umgang mit Nichtliven zu bedienen. Mit dieser
strengen Abgeschlossenheit verharrten sie freilich auch stets im Zustande
der Uncultur. Ihr ganzes Fischer- und Schifferleben wies sie auch
nur auf Kenntniß des Meeres hin, und ihr Umgang war stets nur
mit den lettischen Klassen des Landes. Wie alle rohen Menschen,
bei denen heftige Körperanstrengungen mit bequemster Ruhe in schrof¬
fen Gegensätzen wechseln, so sind auch die Liven dem übermäßigen
Lebensgenusse ergeben und daneben ist Trägheit ihr hervorstechendster
Charakterzug. Der Live arbeitet nur eben so viel, als er zum Er¬
werbe des nothwendigsten Lebensbedarfes muß. Er kennt keinerlei
weitergreifende Specularion. Und was er irgend erübrigt, das ver-


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heuern Fläche jenseits des rigi-chen Busens bis an die Ufer des
Sees ihren Namen ausprägten, sind sie jetzt hier auf einen klei¬
nen unwirthbaren Landstrich zurückgedrängt und bis zu etwa drei¬
hundert Familien zusammengeschmolzen. Aber diese Wenigen bilden
dennoch eine völlige Nation. Obschon sie von den Letten die Kleidung an¬
nahmen, den kurzen Rock und die kurzen Unterkleider, so haben sie doch
deren Lieblingsfarbe, ein charakterlos lichtes Grau, verschmäht. Sie klei¬
den sich in dunklere Stoffe. Jene tragen durchgängig sandalenartige
Schuhe, von Birkenbast geflochten, in denen das Sumpfwasser der Wiesen
und des Waldes herein- und herauslaufen kann; die Liven stecken in
hohen weiten Stiefeln, denn sie sind ein Volk des Seestrandes. Die
Letten bebauen den Acker und Hüten das Vieh: die Liven kennen
nur den Fischfang und den Verkehr auf dem Meere. — Die Liven
sind jedoch auch kein schöner Menschenschlag. Vielhundertjährige Be¬
deutungslosigkeit hat sie verkümmert und selbst ihre intellectuellen An¬
lagen verwischt. Es ist ihnen ergangen, wie den Letten und Esthen,
nur noch in hoher», Grade. Die einst so kriegfertigen Letten, welche
den deutschen Rittern mannhaft entgegenstanden, sind schwächlich, feig,
hinterlistig geworden; die Liven stumpf, einsilbig, verschlossen. Doch
inniger als jene hielten sie an der Nationalität und eifersüchtiger an
ihrer Sprache fest. Jene gaben hier und da Beides um augenblick¬
liche Vortheile hin, sie speculirten mit Beiden,, um materielles Wohl¬
sein zu erreichen. Die Liven dagegen schlössen sich nur enger anein¬
ander, je mehr sie von Außen bedrängt waren; alle bewahrten ihre
Sprache als Eigenthum nur für sich und lehrten sie weder die Letten
noch die Deutschen. Aber Jeder von ihnen erlernte das Lettische,
um sich dessen im Umgang mit Nichtliven zu bedienen. Mit dieser
strengen Abgeschlossenheit verharrten sie freilich auch stets im Zustande
der Uncultur. Ihr ganzes Fischer- und Schifferleben wies sie auch
nur auf Kenntniß des Meeres hin, und ihr Umgang war stets nur
mit den lettischen Klassen des Landes. Wie alle rohen Menschen,
bei denen heftige Körperanstrengungen mit bequemster Ruhe in schrof¬
fen Gegensätzen wechseln, so sind auch die Liven dem übermäßigen
Lebensgenusse ergeben und daneben ist Trägheit ihr hervorstechendster
Charakterzug. Der Live arbeitet nur eben so viel, als er zum Er¬
werbe des nothwendigsten Lebensbedarfes muß. Er kennt keinerlei
weitergreifende Specularion. Und was er irgend erübrigt, das ver-


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[0467] heuern Fläche jenseits des rigi-chen Busens bis an die Ufer des Sees ihren Namen ausprägten, sind sie jetzt hier auf einen klei¬ nen unwirthbaren Landstrich zurückgedrängt und bis zu etwa drei¬ hundert Familien zusammengeschmolzen. Aber diese Wenigen bilden dennoch eine völlige Nation. Obschon sie von den Letten die Kleidung an¬ nahmen, den kurzen Rock und die kurzen Unterkleider, so haben sie doch deren Lieblingsfarbe, ein charakterlos lichtes Grau, verschmäht. Sie klei¬ den sich in dunklere Stoffe. Jene tragen durchgängig sandalenartige Schuhe, von Birkenbast geflochten, in denen das Sumpfwasser der Wiesen und des Waldes herein- und herauslaufen kann; die Liven stecken in hohen weiten Stiefeln, denn sie sind ein Volk des Seestrandes. Die Letten bebauen den Acker und Hüten das Vieh: die Liven kennen nur den Fischfang und den Verkehr auf dem Meere. — Die Liven sind jedoch auch kein schöner Menschenschlag. Vielhundertjährige Be¬ deutungslosigkeit hat sie verkümmert und selbst ihre intellectuellen An¬ lagen verwischt. Es ist ihnen ergangen, wie den Letten und Esthen, nur noch in hoher», Grade. Die einst so kriegfertigen Letten, welche den deutschen Rittern mannhaft entgegenstanden, sind schwächlich, feig, hinterlistig geworden; die Liven stumpf, einsilbig, verschlossen. Doch inniger als jene hielten sie an der Nationalität und eifersüchtiger an ihrer Sprache fest. Jene gaben hier und da Beides um augenblick¬ liche Vortheile hin, sie speculirten mit Beiden,, um materielles Wohl¬ sein zu erreichen. Die Liven dagegen schlössen sich nur enger anein¬ ander, je mehr sie von Außen bedrängt waren; alle bewahrten ihre Sprache als Eigenthum nur für sich und lehrten sie weder die Letten noch die Deutschen. Aber Jeder von ihnen erlernte das Lettische, um sich dessen im Umgang mit Nichtliven zu bedienen. Mit dieser strengen Abgeschlossenheit verharrten sie freilich auch stets im Zustande der Uncultur. Ihr ganzes Fischer- und Schifferleben wies sie auch nur auf Kenntniß des Meeres hin, und ihr Umgang war stets nur mit den lettischen Klassen des Landes. Wie alle rohen Menschen, bei denen heftige Körperanstrengungen mit bequemster Ruhe in schrof¬ fen Gegensätzen wechseln, so sind auch die Liven dem übermäßigen Lebensgenusse ergeben und daneben ist Trägheit ihr hervorstechendster Charakterzug. Der Live arbeitet nur eben so viel, als er zum Er¬ werbe des nothwendigsten Lebensbedarfes muß. Er kennt keinerlei weitergreifende Specularion. Und was er irgend erübrigt, das ver- Grcnzbot-n ,L6S. l. 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/467>, abgerufen am 23.07.2024.