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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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die französische Zivilprozeßordnung in Führung seiner Rechtsangele-
genheiten selbständig. Die Geschwornengerichte haben das Selbst¬
bewußtsein gekräftigt. Der coa<- civil, der kein persönliches Vorrecht,
kein Vorrecht eines Gutes vor einem andern anerkennt, eine und
dieselbe Gemeindeordnung für Stadt und Land, kurz die vollkommene
Gleichheit Aller vor dem Gesetze, haben die Rheinländer zu freien
Staatsbürgern, zu Menschen gemacht. Die gleiche Berechtigung Aller
ist in Fleisch und Blut der Rheinländer gedrungen. Nirgends ist
das Ständewesen, die Eintheilung in Ritter, Bürger und Landbe¬
wohner mehr eine Fiction als in der Rheinprovinz. Die Oeffent-
lichkett der Rechtspflege und die klare, bündige Gesetzgebung des
era" Napoleon haben auf die politische Entwickelung günstig gewirkt.
Nächst der Rheinprovinz sind in Ostpreußen und Westphalen, das
zu einem neuen politischen Leben erwacht ist, die bedeutendsten und
gewichtigsten Petitionen eingereicht.

Ueber die in Schlesien und Posen vorbereiteten Petitionen ist
wenig zur öffentlichen Kunde gekommen. Indeß ist man in Schlesien
gerade vorzugsweise rege geworden. Die Stadt Breslau stellte schon
auf dem Landtage von 1841 den Antrag auf Einführung von Reichs¬
ständen. Die Stände Posens haben auf dem Landtage von 1843
eine Adresse an den König eingereicht, worin sie sagen: "Stände des
Großherzogthums Posen erblicken in der Vereinigung der ständischen
Ausschüsse eine Fortbildung der ständischen Verfassung; sie halten
aber dafür, daß ihre Wirksamkeit nur dann volle Bedeutung gewin¬
nen kann, wenn mit dieser Vereinigung auch alle diejenigen
Institutionen in's Leben treten, welche durch dieAller-
höchste Verordnung vom 22. Mai 1815 verheißen worden
sind." In Brandenburg, Pommern und Sachsen scheint man sich
weniger würdig und weniger das Bedürfniß einer freiern Entwickelung,
freier Staatsformen zu fühlen. Das Bedürfniß ist freilich auch hier
vorhanden, aber der loyale Unterthan wcigt nicht, seine eigene Mei¬
nung auszusprechen. In der Provinz Sachsen nehmen die theologi¬
schen Angelegenheiten, die religiösen Wirren, Versammlungen evange¬
lischer und protestantischer Freunde, Gustav Adolph-Vereine, Syno¬
den ze. die Kopfe und die Herzen der Christen so in Anspruch, baß
sie wenig Zeit behalten, als Menschen der politischen Entwickelung
ihre Aufmerksamkeit zu schenken. "Die Provinz Sachsen," so lasen wir


die französische Zivilprozeßordnung in Führung seiner Rechtsangele-
genheiten selbständig. Die Geschwornengerichte haben das Selbst¬
bewußtsein gekräftigt. Der coa<- civil, der kein persönliches Vorrecht,
kein Vorrecht eines Gutes vor einem andern anerkennt, eine und
dieselbe Gemeindeordnung für Stadt und Land, kurz die vollkommene
Gleichheit Aller vor dem Gesetze, haben die Rheinländer zu freien
Staatsbürgern, zu Menschen gemacht. Die gleiche Berechtigung Aller
ist in Fleisch und Blut der Rheinländer gedrungen. Nirgends ist
das Ständewesen, die Eintheilung in Ritter, Bürger und Landbe¬
wohner mehr eine Fiction als in der Rheinprovinz. Die Oeffent-
lichkett der Rechtspflege und die klare, bündige Gesetzgebung des
era« Napoleon haben auf die politische Entwickelung günstig gewirkt.
Nächst der Rheinprovinz sind in Ostpreußen und Westphalen, das
zu einem neuen politischen Leben erwacht ist, die bedeutendsten und
gewichtigsten Petitionen eingereicht.

Ueber die in Schlesien und Posen vorbereiteten Petitionen ist
wenig zur öffentlichen Kunde gekommen. Indeß ist man in Schlesien
gerade vorzugsweise rege geworden. Die Stadt Breslau stellte schon
auf dem Landtage von 1841 den Antrag auf Einführung von Reichs¬
ständen. Die Stände Posens haben auf dem Landtage von 1843
eine Adresse an den König eingereicht, worin sie sagen: „Stände des
Großherzogthums Posen erblicken in der Vereinigung der ständischen
Ausschüsse eine Fortbildung der ständischen Verfassung; sie halten
aber dafür, daß ihre Wirksamkeit nur dann volle Bedeutung gewin¬
nen kann, wenn mit dieser Vereinigung auch alle diejenigen
Institutionen in's Leben treten, welche durch dieAller-
höchste Verordnung vom 22. Mai 1815 verheißen worden
sind." In Brandenburg, Pommern und Sachsen scheint man sich
weniger würdig und weniger das Bedürfniß einer freiern Entwickelung,
freier Staatsformen zu fühlen. Das Bedürfniß ist freilich auch hier
vorhanden, aber der loyale Unterthan wcigt nicht, seine eigene Mei¬
nung auszusprechen. In der Provinz Sachsen nehmen die theologi¬
schen Angelegenheiten, die religiösen Wirren, Versammlungen evange¬
lischer und protestantischer Freunde, Gustav Adolph-Vereine, Syno¬
den ze. die Kopfe und die Herzen der Christen so in Anspruch, baß
sie wenig Zeit behalten, als Menschen der politischen Entwickelung
ihre Aufmerksamkeit zu schenken. „Die Provinz Sachsen," so lasen wir


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[0457] die französische Zivilprozeßordnung in Führung seiner Rechtsangele- genheiten selbständig. Die Geschwornengerichte haben das Selbst¬ bewußtsein gekräftigt. Der coa<- civil, der kein persönliches Vorrecht, kein Vorrecht eines Gutes vor einem andern anerkennt, eine und dieselbe Gemeindeordnung für Stadt und Land, kurz die vollkommene Gleichheit Aller vor dem Gesetze, haben die Rheinländer zu freien Staatsbürgern, zu Menschen gemacht. Die gleiche Berechtigung Aller ist in Fleisch und Blut der Rheinländer gedrungen. Nirgends ist das Ständewesen, die Eintheilung in Ritter, Bürger und Landbe¬ wohner mehr eine Fiction als in der Rheinprovinz. Die Oeffent- lichkett der Rechtspflege und die klare, bündige Gesetzgebung des era« Napoleon haben auf die politische Entwickelung günstig gewirkt. Nächst der Rheinprovinz sind in Ostpreußen und Westphalen, das zu einem neuen politischen Leben erwacht ist, die bedeutendsten und gewichtigsten Petitionen eingereicht. Ueber die in Schlesien und Posen vorbereiteten Petitionen ist wenig zur öffentlichen Kunde gekommen. Indeß ist man in Schlesien gerade vorzugsweise rege geworden. Die Stadt Breslau stellte schon auf dem Landtage von 1841 den Antrag auf Einführung von Reichs¬ ständen. Die Stände Posens haben auf dem Landtage von 1843 eine Adresse an den König eingereicht, worin sie sagen: „Stände des Großherzogthums Posen erblicken in der Vereinigung der ständischen Ausschüsse eine Fortbildung der ständischen Verfassung; sie halten aber dafür, daß ihre Wirksamkeit nur dann volle Bedeutung gewin¬ nen kann, wenn mit dieser Vereinigung auch alle diejenigen Institutionen in's Leben treten, welche durch dieAller- höchste Verordnung vom 22. Mai 1815 verheißen worden sind." In Brandenburg, Pommern und Sachsen scheint man sich weniger würdig und weniger das Bedürfniß einer freiern Entwickelung, freier Staatsformen zu fühlen. Das Bedürfniß ist freilich auch hier vorhanden, aber der loyale Unterthan wcigt nicht, seine eigene Mei¬ nung auszusprechen. In der Provinz Sachsen nehmen die theologi¬ schen Angelegenheiten, die religiösen Wirren, Versammlungen evange¬ lischer und protestantischer Freunde, Gustav Adolph-Vereine, Syno¬ den ze. die Kopfe und die Herzen der Christen so in Anspruch, baß sie wenig Zeit behalten, als Menschen der politischen Entwickelung ihre Aufmerksamkeit zu schenken. „Die Provinz Sachsen," so lasen wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/457>, abgerufen am 01.07.2024.