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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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so könnte man Anstandshalber auch jene alte Ruine abbrechen oder
übertünchen; eine solche Restauration würde eine kluge Maßregel ge¬
nannt werden. Ist doch selbst ein Mitglied unsres Königshauses in
die Reihen der dramatischen Dichter, dieser neuesten Verfechter und
Märtyrer der Aeitidecn, getreten: warum sollten sich jene starren Stan¬
desversteinerungen nicht endlich lösen?

Das Tagesgespräch dreht sich hier stetig um zwei Punkte: den
Prager Bahnhof und die Eonfessionswirren; ja auf wiederholte An¬
fragen in unserem "Anzeiger," ob Dresden schlafe, (ähnlich wie: Bru¬
tus, schläfst Du?) wir dfogar schon ein Meeting zur Besprechung einer
Petition für Sachsens Presbyterialverfassung nach Leipzigs Vorgange
vorbereitet. So ist es doch immer noch gut, daß wir in unsrer Schwe¬
sterstadt eine Anregerin -- und in uns selbst den löblichen Nachma-
chens-Trieb haben; denn sonst -- hätten wir wohl noch lange nicht
ausgeschlafen.'"

Das Theater bringt uns in diesen Tagen Laubes "Struensee.
Es hat schwere Geburtswehen zu überstehen gehabt*); statt seiner sollte
durchaus das gleichnamige alte Kind Michel Beers untergeschoben
werden; doch ist dem lebenden Dichter sein gutes Recht, besonders
durch kräftige Einsprache unsers Oberregisseurs, Herrn Ed. Devrient,
gewahrt worden. Dem Stücke wird mit theilnehmender Spannung
entgegengesehen: der gegen den Adel revolutionirende Minister Stru-
ensee ist ein Stoff, aus welchem sich zeitgemäße -- fromme Wünsche
formen lassen. *.


IV.
Notizen.

Raczynski und die Polen. -- Radicalismus der Augsb. Allgemeinen. -- Weiße
Sklaven. -- Druckfehler!

-- Wer etwa "die ungöttliche Komödie"") gelesen, den hat der
Selbstmord des Fürsten Raczynski in Posen an die Hauptfigur jenes
merkwürdigen, etwas mystischen Dramas gemahnen müssen. Diese
Hauptfigur "der Mann" genannt, ist eine glänzende Personification
jener aristokratischen Patrioten, die sich in der Ahnengruft gegen den
Sturm der Zeit verschanzen; sie hassen den Status quo, der Polens
Tod besiegelt, und doch graut ihnen davor, den unabsehbaren Metamor¬
phosen der demokratischen Bewegung, die nur ein neues Polen schaf¬
fen könnte, sich und ihre traditionelle Herrlichkeit hinzugeben. Denn
unwillkürlich identificiren sie ihre Familie mit dem Vaterland, ihren
Wappenschild mit der Nationalität, die altritterlicher Tugenden mit
menschlicher Tugend, Ehre und Glauben überhaupt; so erblicken sie in




D. R. *) Ist bereits am 9. mit glänzendem Erfolge gegeben worden.
Aus dem Polnischen übertragen. Leipzig, bei I. I. Weber 1840,

so könnte man Anstandshalber auch jene alte Ruine abbrechen oder
übertünchen; eine solche Restauration würde eine kluge Maßregel ge¬
nannt werden. Ist doch selbst ein Mitglied unsres Königshauses in
die Reihen der dramatischen Dichter, dieser neuesten Verfechter und
Märtyrer der Aeitidecn, getreten: warum sollten sich jene starren Stan¬
desversteinerungen nicht endlich lösen?

Das Tagesgespräch dreht sich hier stetig um zwei Punkte: den
Prager Bahnhof und die Eonfessionswirren; ja auf wiederholte An¬
fragen in unserem „Anzeiger," ob Dresden schlafe, (ähnlich wie: Bru¬
tus, schläfst Du?) wir dfogar schon ein Meeting zur Besprechung einer
Petition für Sachsens Presbyterialverfassung nach Leipzigs Vorgange
vorbereitet. So ist es doch immer noch gut, daß wir in unsrer Schwe¬
sterstadt eine Anregerin — und in uns selbst den löblichen Nachma-
chens-Trieb haben; denn sonst — hätten wir wohl noch lange nicht
ausgeschlafen.'"

Das Theater bringt uns in diesen Tagen Laubes „Struensee.
Es hat schwere Geburtswehen zu überstehen gehabt*); statt seiner sollte
durchaus das gleichnamige alte Kind Michel Beers untergeschoben
werden; doch ist dem lebenden Dichter sein gutes Recht, besonders
durch kräftige Einsprache unsers Oberregisseurs, Herrn Ed. Devrient,
gewahrt worden. Dem Stücke wird mit theilnehmender Spannung
entgegengesehen: der gegen den Adel revolutionirende Minister Stru-
ensee ist ein Stoff, aus welchem sich zeitgemäße — fromme Wünsche
formen lassen. *.


IV.
Notizen.

Raczynski und die Polen. — Radicalismus der Augsb. Allgemeinen. — Weiße
Sklaven. — Druckfehler!

— Wer etwa „die ungöttliche Komödie"") gelesen, den hat der
Selbstmord des Fürsten Raczynski in Posen an die Hauptfigur jenes
merkwürdigen, etwas mystischen Dramas gemahnen müssen. Diese
Hauptfigur „der Mann" genannt, ist eine glänzende Personification
jener aristokratischen Patrioten, die sich in der Ahnengruft gegen den
Sturm der Zeit verschanzen; sie hassen den Status quo, der Polens
Tod besiegelt, und doch graut ihnen davor, den unabsehbaren Metamor¬
phosen der demokratischen Bewegung, die nur ein neues Polen schaf¬
fen könnte, sich und ihre traditionelle Herrlichkeit hinzugeben. Denn
unwillkürlich identificiren sie ihre Familie mit dem Vaterland, ihren
Wappenschild mit der Nationalität, die altritterlicher Tugenden mit
menschlicher Tugend, Ehre und Glauben überhaupt; so erblicken sie in




D. R. *) Ist bereits am 9. mit glänzendem Erfolge gegeben worden.
Aus dem Polnischen übertragen. Leipzig, bei I. I. Weber 1840,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/400>, abgerufen am 26.06.2024.