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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Sakramenten der Kirche, wenn Du römisch bist. Als Rosenkreuzer
wird Dir später die geheime Zahl deutlicher werden. Die Leviten
feierten ein Fest, das Mysterium des verlorenen Wortes, das noch
heute sür den Maurer Geltung hat. Wenn die Juden in der ba¬
bylonischen Gefangenschaft den Tod ihres göttlichen Meisters betrau¬
erten, so meinten sie unter diesem Hiram die Freiheit, den Glanz
und die Herrschaft ihres Volkes. Auch uns ist Hiram ein Meister
und Märtyrer, und ein altes Maurersystem sagt, Hiram sei Christus
und seine drei Mörder seien Judas, Kaiphas und Pilatus. Wenn
Du uns bei den Arbeiten in der einen Hand die Kelle, in der an¬
dern den Degen führen siehst, wie der Maurer im Grade des schol^
dischen Ritters erscheint, so schlag' das Buch Nehemia auf und Du
wirst erfahren, daß der neue Tempelbau also begonnen ward, die
Kelle ihn förderte, der Degen ihn gegen die Feinde schützte. Lerne
überhaupt begreifen, daß die wahre Maurerei das Ergebniß dreier
Religionen ist; aus dem, was Egypter, Juden und Christen der Welt
überlieferten, erwächst der neue Tempelbau für die Menschheit. Und
hiermit, schloß er seine Rede, indem ich Dich als Maurer und Bru-
der begrüße, um Dich dereinst zum Rosenkreuzer heranreifen zu sehen,
lerne das Zeichen kennen, unter welchem Du Dich den Genossen
kenntlich machst. Ich wiederholte das Zeichen im Kreise der Zwölf
und Jeder verschwand, nachdem ich es mit ihm gewechselt.

Ich war nun überzeugt, ein Maurer zu sein, obschon nur ein
Maurer von der Loge et Ooix. Eine Zeitlang beschäftigte
mich noch der neue Zusammenhang, den ich später freilich in den
wirklichen Freimaurerlogen ganz anders geordnet fand. Körper und
Seele waren mir endlich abgemüdet, die Nacht mußte vorüber sein
und ich sank ermattet in einen tiefen Schlaf.

Draußen stand vielleicht die Sonne schon hoch, als ich, vom
Bedürfniß nach Speise gequält, erwachte. Ich fand mich in dersel¬
ben Umgebung wieder. Nur ein silberner Pokal, der vor mir auf
dem Boden stand, zog meine Neugier auf sich; eine grüne dicke Flüs¬
sigkeit blinkte im schimmernden Gefäß. Ich führte ihn rasch an meine
Lippen. Der betäubende Duft reizte mich, aber ein leiser Schauer,
der mich plötzlich schüttelte, hieß mich auf den Genuß des Trankes
verzichten. Ich dachte nicht an Gift, aber ich bin doch Italiener
genug, um Tränke zu kennen, die den Geist gefangen nehmen, indem


Grenzboten 1"j!>. I. 47

Sakramenten der Kirche, wenn Du römisch bist. Als Rosenkreuzer
wird Dir später die geheime Zahl deutlicher werden. Die Leviten
feierten ein Fest, das Mysterium des verlorenen Wortes, das noch
heute sür den Maurer Geltung hat. Wenn die Juden in der ba¬
bylonischen Gefangenschaft den Tod ihres göttlichen Meisters betrau¬
erten, so meinten sie unter diesem Hiram die Freiheit, den Glanz
und die Herrschaft ihres Volkes. Auch uns ist Hiram ein Meister
und Märtyrer, und ein altes Maurersystem sagt, Hiram sei Christus
und seine drei Mörder seien Judas, Kaiphas und Pilatus. Wenn
Du uns bei den Arbeiten in der einen Hand die Kelle, in der an¬
dern den Degen führen siehst, wie der Maurer im Grade des schol^
dischen Ritters erscheint, so schlag' das Buch Nehemia auf und Du
wirst erfahren, daß der neue Tempelbau also begonnen ward, die
Kelle ihn förderte, der Degen ihn gegen die Feinde schützte. Lerne
überhaupt begreifen, daß die wahre Maurerei das Ergebniß dreier
Religionen ist; aus dem, was Egypter, Juden und Christen der Welt
überlieferten, erwächst der neue Tempelbau für die Menschheit. Und
hiermit, schloß er seine Rede, indem ich Dich als Maurer und Bru-
der begrüße, um Dich dereinst zum Rosenkreuzer heranreifen zu sehen,
lerne das Zeichen kennen, unter welchem Du Dich den Genossen
kenntlich machst. Ich wiederholte das Zeichen im Kreise der Zwölf
und Jeder verschwand, nachdem ich es mit ihm gewechselt.

Ich war nun überzeugt, ein Maurer zu sein, obschon nur ein
Maurer von der Loge et Ooix. Eine Zeitlang beschäftigte
mich noch der neue Zusammenhang, den ich später freilich in den
wirklichen Freimaurerlogen ganz anders geordnet fand. Körper und
Seele waren mir endlich abgemüdet, die Nacht mußte vorüber sein
und ich sank ermattet in einen tiefen Schlaf.

Draußen stand vielleicht die Sonne schon hoch, als ich, vom
Bedürfniß nach Speise gequält, erwachte. Ich fand mich in dersel¬
ben Umgebung wieder. Nur ein silberner Pokal, der vor mir auf
dem Boden stand, zog meine Neugier auf sich; eine grüne dicke Flüs¬
sigkeit blinkte im schimmernden Gefäß. Ich führte ihn rasch an meine
Lippen. Der betäubende Duft reizte mich, aber ein leiser Schauer,
der mich plötzlich schüttelte, hieß mich auf den Genuß des Trankes
verzichten. Ich dachte nicht an Gift, aber ich bin doch Italiener
genug, um Tränke zu kennen, die den Geist gefangen nehmen, indem


Grenzboten 1»j!>. I. 47
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[0371] Sakramenten der Kirche, wenn Du römisch bist. Als Rosenkreuzer wird Dir später die geheime Zahl deutlicher werden. Die Leviten feierten ein Fest, das Mysterium des verlorenen Wortes, das noch heute sür den Maurer Geltung hat. Wenn die Juden in der ba¬ bylonischen Gefangenschaft den Tod ihres göttlichen Meisters betrau¬ erten, so meinten sie unter diesem Hiram die Freiheit, den Glanz und die Herrschaft ihres Volkes. Auch uns ist Hiram ein Meister und Märtyrer, und ein altes Maurersystem sagt, Hiram sei Christus und seine drei Mörder seien Judas, Kaiphas und Pilatus. Wenn Du uns bei den Arbeiten in der einen Hand die Kelle, in der an¬ dern den Degen führen siehst, wie der Maurer im Grade des schol^ dischen Ritters erscheint, so schlag' das Buch Nehemia auf und Du wirst erfahren, daß der neue Tempelbau also begonnen ward, die Kelle ihn förderte, der Degen ihn gegen die Feinde schützte. Lerne überhaupt begreifen, daß die wahre Maurerei das Ergebniß dreier Religionen ist; aus dem, was Egypter, Juden und Christen der Welt überlieferten, erwächst der neue Tempelbau für die Menschheit. Und hiermit, schloß er seine Rede, indem ich Dich als Maurer und Bru- der begrüße, um Dich dereinst zum Rosenkreuzer heranreifen zu sehen, lerne das Zeichen kennen, unter welchem Du Dich den Genossen kenntlich machst. Ich wiederholte das Zeichen im Kreise der Zwölf und Jeder verschwand, nachdem ich es mit ihm gewechselt. Ich war nun überzeugt, ein Maurer zu sein, obschon nur ein Maurer von der Loge et Ooix. Eine Zeitlang beschäftigte mich noch der neue Zusammenhang, den ich später freilich in den wirklichen Freimaurerlogen ganz anders geordnet fand. Körper und Seele waren mir endlich abgemüdet, die Nacht mußte vorüber sein und ich sank ermattet in einen tiefen Schlaf. Draußen stand vielleicht die Sonne schon hoch, als ich, vom Bedürfniß nach Speise gequält, erwachte. Ich fand mich in dersel¬ ben Umgebung wieder. Nur ein silberner Pokal, der vor mir auf dem Boden stand, zog meine Neugier auf sich; eine grüne dicke Flüs¬ sigkeit blinkte im schimmernden Gefäß. Ich führte ihn rasch an meine Lippen. Der betäubende Duft reizte mich, aber ein leiser Schauer, der mich plötzlich schüttelte, hieß mich auf den Genuß des Trankes verzichten. Ich dachte nicht an Gift, aber ich bin doch Italiener genug, um Tränke zu kennen, die den Geist gefangen nehmen, indem Grenzboten 1»j!>. I. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/371>, abgerufen am 23.07.2024.