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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Dialog ist reich an anmuthigen und glücklich", Wendungen, und da
der letzte Alt sich wieder ganz in den leiseren Ton der ganzen An¬
lage findet und die Lösung auf geistvolle und graziöse Weise zu Stande
kommt, so scheidet man mit einer dankbaren Anerkennung von diesem
Stücke.

Das Publicum war in der Mehrzahl wohl auch dieser Mei¬
nung und nahm das Stück günstig auf. Aber es spendete seinen
lebhaftesten Beifall dem Schlüsse jenes herausfordernden vierten Aktes,
und eS hatte sich zur ersten Wiederholung des neuen Stückes nicht
eben zahlreich eingefunden. Bei näherem Zufragen entdeckte ich bald,
daß man im Urtheile unsicher war uno tappte, und daß man sich ge¬
neigt zeigte, über einige Langweiligkeit zu seufzen.

Solcher Vorwurf kann nur von einem Publicum kommen, wel¬
ches nicht mehr mit voller Sammlung hinhören mag, sondern nur
starker Erregungsmittel bedürftig ist. Darüber ist gar sehr unter uns
zu klagen, unter uns, welche wir an Sinnigkeit den Franzosen so sehr
überlegen zu sein glauben. Der Franzose hört viel aufmerksamer, ja
angestrengter im Theater zu, als der Deutsche. Ich spreche nicht
einmal von der Länge des Zuhörens, und daß er ungeschwächt vier
Stunden widmet, während uns schon drei Stunden ein Opfer schei¬
nen. Ich spreche mir von der Art des Zuhörens. Die Scribeschen
ErPositionen, welche in Frankreich vollständig aufgenommen werden,
müssen bei uns gewöhnlich um die Hälfte gekürzt erscheinen. Spricht
nun auch der französische Schauspieler schneller, fehlt der unsrige auch
darin, daß er zu Viel betont und die Aufmerksamkeit abnützt, es bleibt
immer noch ein großes Deficit der hingebenden Aufmerksamkeit übrig
für unser Publicum. Es ist gar sehr der Mühe werth, daß wir bei
der Reform unsers Theaters ein besonderes Augenmerk darauf rich¬
ten, daß unser Publicum den vorbereitenden Scenen, den leisen Ueber-
gängen und Vermittelungen eines Stückes größeren Antheil schenke.

Oertlichkeit und Zeitungsstyl sind uns allerdings hinderlich. Oert-
lichkeit insofern, als jede Gattung von Theaterstücken, die gröbste
und die feinste, auf derselben Bühne und großentheils vor demselben
Publicum erscheinen muß, während eine Stadt wie Paris schon durch
das Theatre franvais, selbst durch das Odeon und Gymnase, dem
neuen Stücke einen gewissen, der Aufnahme zuträglichen Charakter
beilegt. Zeitungsstyl insofern, als die wirklich Kundigen selten oder


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Dialog ist reich an anmuthigen und glücklich«, Wendungen, und da
der letzte Alt sich wieder ganz in den leiseren Ton der ganzen An¬
lage findet und die Lösung auf geistvolle und graziöse Weise zu Stande
kommt, so scheidet man mit einer dankbaren Anerkennung von diesem
Stücke.

Das Publicum war in der Mehrzahl wohl auch dieser Mei¬
nung und nahm das Stück günstig auf. Aber es spendete seinen
lebhaftesten Beifall dem Schlüsse jenes herausfordernden vierten Aktes,
und eS hatte sich zur ersten Wiederholung des neuen Stückes nicht
eben zahlreich eingefunden. Bei näherem Zufragen entdeckte ich bald,
daß man im Urtheile unsicher war uno tappte, und daß man sich ge¬
neigt zeigte, über einige Langweiligkeit zu seufzen.

Solcher Vorwurf kann nur von einem Publicum kommen, wel¬
ches nicht mehr mit voller Sammlung hinhören mag, sondern nur
starker Erregungsmittel bedürftig ist. Darüber ist gar sehr unter uns
zu klagen, unter uns, welche wir an Sinnigkeit den Franzosen so sehr
überlegen zu sein glauben. Der Franzose hört viel aufmerksamer, ja
angestrengter im Theater zu, als der Deutsche. Ich spreche nicht
einmal von der Länge des Zuhörens, und daß er ungeschwächt vier
Stunden widmet, während uns schon drei Stunden ein Opfer schei¬
nen. Ich spreche mir von der Art des Zuhörens. Die Scribeschen
ErPositionen, welche in Frankreich vollständig aufgenommen werden,
müssen bei uns gewöhnlich um die Hälfte gekürzt erscheinen. Spricht
nun auch der französische Schauspieler schneller, fehlt der unsrige auch
darin, daß er zu Viel betont und die Aufmerksamkeit abnützt, es bleibt
immer noch ein großes Deficit der hingebenden Aufmerksamkeit übrig
für unser Publicum. Es ist gar sehr der Mühe werth, daß wir bei
der Reform unsers Theaters ein besonderes Augenmerk darauf rich¬
ten, daß unser Publicum den vorbereitenden Scenen, den leisen Ueber-
gängen und Vermittelungen eines Stückes größeren Antheil schenke.

Oertlichkeit und Zeitungsstyl sind uns allerdings hinderlich. Oert-
lichkeit insofern, als jede Gattung von Theaterstücken, die gröbste
und die feinste, auf derselben Bühne und großentheils vor demselben
Publicum erscheinen muß, während eine Stadt wie Paris schon durch
das Theatre franvais, selbst durch das Odeon und Gymnase, dem
neuen Stücke einen gewissen, der Aufnahme zuträglichen Charakter
beilegt. Zeitungsstyl insofern, als die wirklich Kundigen selten oder


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[0357] Dialog ist reich an anmuthigen und glücklich«, Wendungen, und da der letzte Alt sich wieder ganz in den leiseren Ton der ganzen An¬ lage findet und die Lösung auf geistvolle und graziöse Weise zu Stande kommt, so scheidet man mit einer dankbaren Anerkennung von diesem Stücke. Das Publicum war in der Mehrzahl wohl auch dieser Mei¬ nung und nahm das Stück günstig auf. Aber es spendete seinen lebhaftesten Beifall dem Schlüsse jenes herausfordernden vierten Aktes, und eS hatte sich zur ersten Wiederholung des neuen Stückes nicht eben zahlreich eingefunden. Bei näherem Zufragen entdeckte ich bald, daß man im Urtheile unsicher war uno tappte, und daß man sich ge¬ neigt zeigte, über einige Langweiligkeit zu seufzen. Solcher Vorwurf kann nur von einem Publicum kommen, wel¬ ches nicht mehr mit voller Sammlung hinhören mag, sondern nur starker Erregungsmittel bedürftig ist. Darüber ist gar sehr unter uns zu klagen, unter uns, welche wir an Sinnigkeit den Franzosen so sehr überlegen zu sein glauben. Der Franzose hört viel aufmerksamer, ja angestrengter im Theater zu, als der Deutsche. Ich spreche nicht einmal von der Länge des Zuhörens, und daß er ungeschwächt vier Stunden widmet, während uns schon drei Stunden ein Opfer schei¬ nen. Ich spreche mir von der Art des Zuhörens. Die Scribeschen ErPositionen, welche in Frankreich vollständig aufgenommen werden, müssen bei uns gewöhnlich um die Hälfte gekürzt erscheinen. Spricht nun auch der französische Schauspieler schneller, fehlt der unsrige auch darin, daß er zu Viel betont und die Aufmerksamkeit abnützt, es bleibt immer noch ein großes Deficit der hingebenden Aufmerksamkeit übrig für unser Publicum. Es ist gar sehr der Mühe werth, daß wir bei der Reform unsers Theaters ein besonderes Augenmerk darauf rich¬ ten, daß unser Publicum den vorbereitenden Scenen, den leisen Ueber- gängen und Vermittelungen eines Stückes größeren Antheil schenke. Oertlichkeit und Zeitungsstyl sind uns allerdings hinderlich. Oert- lichkeit insofern, als jede Gattung von Theaterstücken, die gröbste und die feinste, auf derselben Bühne und großentheils vor demselben Publicum erscheinen muß, während eine Stadt wie Paris schon durch das Theatre franvais, selbst durch das Odeon und Gymnase, dem neuen Stücke einen gewissen, der Aufnahme zuträglichen Charakter beilegt. Zeitungsstyl insofern, als die wirklich Kundigen selten oder 45*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/357>, abgerufen am 22.07.2024.