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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Geistliche von Stuttgart, welcher am deutlichsten von Allen in der
Philosophie lauter/Teufelsblendwerk erkennt und am Heftigsten wider
Bischer aufgetreten ist.

Wichtiger aber, als Vischer's übrigens vortreffliche Rede, unend¬
lich viel wichtiger ist die Haltung, welche der öffentliche Geist bei
diesem Anlasse gezeigt hat. Alles stand gegen die Zeloten auf. Der
Beobachter, das Blatt der würtembergischen Opposition, daS jetzt ge¬
gen dreitausend Abonnenten zählt, erschien bis an die Zähne gehar¬
nischt mit gediegenen Artikeln für das kirchliche Reformprinzip, wel¬
ches die eigentliche Zielscheibe der Fanatiker war. Erst heute wieder
bringt der Beobachter einen, von einem Pfarrer herrührenden, sehr
geistvollen Aufsatz, an zwölf Spalten lang, mit Personalien über
Bischer, (der ein Abkömmling des berühmten Nürnberger Künstlers
Peter Bischer ist) und mit einer umfassenden klaren und energischen
Darstellung des Stands der Parteien. Plötzlich ist sie durch die
plumpe Hand des Fanatismus recht vor's Auge der Massen hinge-
zcrrt worden, die große Wahrheit, daß die Reformation kein abge¬
schlossenes Ereignis), sondern das Prinzip, das siegreiche Recht der
ewigen Bewegung des Menschengeistes ist, daß wir von Heute ge¬
nau dieselbe Befugniß, dieselbe Pflicht, wie unsre Ahnen im sechzehn¬
ten Jahrhundert haben, aus unzureichend gewordenen Anschauungen
und Dogmen heraus zu geistig Wahrerem fortzuschreiten. Allerdigs
machte im Schwäbischen Merkur ein glatter, geschniegelter Artikel,
welchen man dem Hofprediger Grüneisen zuschreibt, noch vor wenigen
Tagen den Versuch, darzuthun, daß der Protestantismus jetzt nicht
mehr wie in der Reformationszeit daS Recht und den Beruf freier
Bewegung, daß er sich vielmehr zu einer Kirche "verdichtet" habe,
deren Bibelauslegung nicht überschritten werden dürfe. Ein gleich¬
zeitiger Artikel von Strauß im Beobachter hat aber diese, das We¬
sen des Protestantismus so schreiend verletzende Behauptung sehr
schön widerlegt. Und wohin eine solche conseauent führen muß, be¬
weist Grüneisen noch in demselben Aufsatz; denn er gelangt zu dem
Vorschlage, in dem evangelischen Stifte zu Tübingen die Philosophie
nicht mehr zu einem nothwendigen Bestandtheile des theologischen
Studiums zu machen, sondern es jedem Einzelnen anheimzugeben,
ob er wie Zeichnen, Tanzen, englische Sprache u. s. w., nebenher
auch philosophische Collegien hören wolle! Das wagt man einer


Geistliche von Stuttgart, welcher am deutlichsten von Allen in der
Philosophie lauter/Teufelsblendwerk erkennt und am Heftigsten wider
Bischer aufgetreten ist.

Wichtiger aber, als Vischer's übrigens vortreffliche Rede, unend¬
lich viel wichtiger ist die Haltung, welche der öffentliche Geist bei
diesem Anlasse gezeigt hat. Alles stand gegen die Zeloten auf. Der
Beobachter, das Blatt der würtembergischen Opposition, daS jetzt ge¬
gen dreitausend Abonnenten zählt, erschien bis an die Zähne gehar¬
nischt mit gediegenen Artikeln für das kirchliche Reformprinzip, wel¬
ches die eigentliche Zielscheibe der Fanatiker war. Erst heute wieder
bringt der Beobachter einen, von einem Pfarrer herrührenden, sehr
geistvollen Aufsatz, an zwölf Spalten lang, mit Personalien über
Bischer, (der ein Abkömmling des berühmten Nürnberger Künstlers
Peter Bischer ist) und mit einer umfassenden klaren und energischen
Darstellung des Stands der Parteien. Plötzlich ist sie durch die
plumpe Hand des Fanatismus recht vor's Auge der Massen hinge-
zcrrt worden, die große Wahrheit, daß die Reformation kein abge¬
schlossenes Ereignis), sondern das Prinzip, das siegreiche Recht der
ewigen Bewegung des Menschengeistes ist, daß wir von Heute ge¬
nau dieselbe Befugniß, dieselbe Pflicht, wie unsre Ahnen im sechzehn¬
ten Jahrhundert haben, aus unzureichend gewordenen Anschauungen
und Dogmen heraus zu geistig Wahrerem fortzuschreiten. Allerdigs
machte im Schwäbischen Merkur ein glatter, geschniegelter Artikel,
welchen man dem Hofprediger Grüneisen zuschreibt, noch vor wenigen
Tagen den Versuch, darzuthun, daß der Protestantismus jetzt nicht
mehr wie in der Reformationszeit daS Recht und den Beruf freier
Bewegung, daß er sich vielmehr zu einer Kirche „verdichtet" habe,
deren Bibelauslegung nicht überschritten werden dürfe. Ein gleich¬
zeitiger Artikel von Strauß im Beobachter hat aber diese, das We¬
sen des Protestantismus so schreiend verletzende Behauptung sehr
schön widerlegt. Und wohin eine solche conseauent führen muß, be¬
weist Grüneisen noch in demselben Aufsatz; denn er gelangt zu dem
Vorschlage, in dem evangelischen Stifte zu Tübingen die Philosophie
nicht mehr zu einem nothwendigen Bestandtheile des theologischen
Studiums zu machen, sondern es jedem Einzelnen anheimzugeben,
ob er wie Zeichnen, Tanzen, englische Sprache u. s. w., nebenher
auch philosophische Collegien hören wolle! Das wagt man einer


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[0330] Geistliche von Stuttgart, welcher am deutlichsten von Allen in der Philosophie lauter/Teufelsblendwerk erkennt und am Heftigsten wider Bischer aufgetreten ist. Wichtiger aber, als Vischer's übrigens vortreffliche Rede, unend¬ lich viel wichtiger ist die Haltung, welche der öffentliche Geist bei diesem Anlasse gezeigt hat. Alles stand gegen die Zeloten auf. Der Beobachter, das Blatt der würtembergischen Opposition, daS jetzt ge¬ gen dreitausend Abonnenten zählt, erschien bis an die Zähne gehar¬ nischt mit gediegenen Artikeln für das kirchliche Reformprinzip, wel¬ ches die eigentliche Zielscheibe der Fanatiker war. Erst heute wieder bringt der Beobachter einen, von einem Pfarrer herrührenden, sehr geistvollen Aufsatz, an zwölf Spalten lang, mit Personalien über Bischer, (der ein Abkömmling des berühmten Nürnberger Künstlers Peter Bischer ist) und mit einer umfassenden klaren und energischen Darstellung des Stands der Parteien. Plötzlich ist sie durch die plumpe Hand des Fanatismus recht vor's Auge der Massen hinge- zcrrt worden, die große Wahrheit, daß die Reformation kein abge¬ schlossenes Ereignis), sondern das Prinzip, das siegreiche Recht der ewigen Bewegung des Menschengeistes ist, daß wir von Heute ge¬ nau dieselbe Befugniß, dieselbe Pflicht, wie unsre Ahnen im sechzehn¬ ten Jahrhundert haben, aus unzureichend gewordenen Anschauungen und Dogmen heraus zu geistig Wahrerem fortzuschreiten. Allerdigs machte im Schwäbischen Merkur ein glatter, geschniegelter Artikel, welchen man dem Hofprediger Grüneisen zuschreibt, noch vor wenigen Tagen den Versuch, darzuthun, daß der Protestantismus jetzt nicht mehr wie in der Reformationszeit daS Recht und den Beruf freier Bewegung, daß er sich vielmehr zu einer Kirche „verdichtet" habe, deren Bibelauslegung nicht überschritten werden dürfe. Ein gleich¬ zeitiger Artikel von Strauß im Beobachter hat aber diese, das We¬ sen des Protestantismus so schreiend verletzende Behauptung sehr schön widerlegt. Und wohin eine solche conseauent führen muß, be¬ weist Grüneisen noch in demselben Aufsatz; denn er gelangt zu dem Vorschlage, in dem evangelischen Stifte zu Tübingen die Philosophie nicht mehr zu einem nothwendigen Bestandtheile des theologischen Studiums zu machen, sondern es jedem Einzelnen anheimzugeben, ob er wie Zeichnen, Tanzen, englische Sprache u. s. w., nebenher auch philosophische Collegien hören wolle! Das wagt man einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/330>, abgerufen am 23.07.2024.