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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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selbst der Bettler mag sie nicht leiden, keine Partei auf ihre rauhe
Stimme hören, Niemand ihr in Palast "der Hütte auch nur den
kleinsten Winkel einräumen. Hörte man auf sie zur rechten Zeit, so
würde man sie zur ungelegener Zeit nicht zu fühlen brauchen. Hier¬
aus ist alles Unheil der Staaten, wie der Familien und Individuen
bisher hervorgegangen. Wer von sich behauptet, er könne die Wahr¬
heit in allen Fällen und unter allen Bedingungen vertragen, der
spricht schon nicht mehr die Wahrheit. Die Bewunderung, die man
den Todten zollt, solchen Todten, welche die Wahrheit gesprochen ha¬
ben, ist äußerst wohlfeil und für Nichts zu achten. Mancher Fürst,
mancher Hochgestellte ergeht sich vielleicht in den schönsten und an¬
erkennendsten Ergüssen über den freisinnige" Ulrich von Hütten; träte
er ihnen aber mit gleicher Kraft, Wahrheit und Entschiedenheit als
Lebender gegenüber, so würde man ihn im Lande umherjagen wie
den alten Hütten. Die Zeit ist vorüber, wo Luther an den Herzog
Moritz und den Kurfürsten Johann Friedrich, welche sich um die
die Stadt Würzen befehdeten, die derbkühnen Worte schrieb: "Sie
sollten sich schämen vor der Welt; vernünftige Leute würden ihren
Krieg ansehen, als schlügen sich zwei betrunkene Bauern um ein zer¬
brochenes Glas, oder zwei Narren um ein Stück Brod." Damals
hörte man noch auf die Stimme der Wahrheit, so rauh und grob
sie klang; beide Fürsten ließen von der Fehde ab und verglichen sich
gütlich. Ja freilich, wäre die Reformation nicht geschehen, jetzt ge¬
schähe sie nimmermehr. Es geht uns mit der Wahrheit wie dem
Macbeth mit Banquo's Geist; sie ist unversehens immer wieder da
und immer wieder schrecken wir vor ihr zurück wie vor einem Ge-
spenste, weil wir uns bewußt sind, sie mehr als einmal meuchlings
gemordet zu haben. Die kleinen Nachfolger Luther'S, unsere Super¬
intendenten und Generalsuperintendenten vertragen nicht einmal die
Wahrheit, wie sollten sie sie rein und ungeschminkt verkündigen?

Mit allem liberalen Absolutismus und allem absolutistischen
Liberalismus, mit aller kommunistischen Vornehmheit und vornehmen
Commuuisterei, mit aller salonmäßigen Glanzwichse, die wir an unser
dickes deutsches Schuhwerk wenden, mit aller unsrer aristokratisch de¬
mokratischen Zwitterbildung von Georges Sand und Gräfin Hahn-
Hahn, von Hegelianismus und Christenthum, von Mirabeauismus
und Marxismus, von Dandysmus und Sanscnlottismus, von aus-


selbst der Bettler mag sie nicht leiden, keine Partei auf ihre rauhe
Stimme hören, Niemand ihr in Palast »der Hütte auch nur den
kleinsten Winkel einräumen. Hörte man auf sie zur rechten Zeit, so
würde man sie zur ungelegener Zeit nicht zu fühlen brauchen. Hier¬
aus ist alles Unheil der Staaten, wie der Familien und Individuen
bisher hervorgegangen. Wer von sich behauptet, er könne die Wahr¬
heit in allen Fällen und unter allen Bedingungen vertragen, der
spricht schon nicht mehr die Wahrheit. Die Bewunderung, die man
den Todten zollt, solchen Todten, welche die Wahrheit gesprochen ha¬
ben, ist äußerst wohlfeil und für Nichts zu achten. Mancher Fürst,
mancher Hochgestellte ergeht sich vielleicht in den schönsten und an¬
erkennendsten Ergüssen über den freisinnige» Ulrich von Hütten; träte
er ihnen aber mit gleicher Kraft, Wahrheit und Entschiedenheit als
Lebender gegenüber, so würde man ihn im Lande umherjagen wie
den alten Hütten. Die Zeit ist vorüber, wo Luther an den Herzog
Moritz und den Kurfürsten Johann Friedrich, welche sich um die
die Stadt Würzen befehdeten, die derbkühnen Worte schrieb: „Sie
sollten sich schämen vor der Welt; vernünftige Leute würden ihren
Krieg ansehen, als schlügen sich zwei betrunkene Bauern um ein zer¬
brochenes Glas, oder zwei Narren um ein Stück Brod." Damals
hörte man noch auf die Stimme der Wahrheit, so rauh und grob
sie klang; beide Fürsten ließen von der Fehde ab und verglichen sich
gütlich. Ja freilich, wäre die Reformation nicht geschehen, jetzt ge¬
schähe sie nimmermehr. Es geht uns mit der Wahrheit wie dem
Macbeth mit Banquo's Geist; sie ist unversehens immer wieder da
und immer wieder schrecken wir vor ihr zurück wie vor einem Ge-
spenste, weil wir uns bewußt sind, sie mehr als einmal meuchlings
gemordet zu haben. Die kleinen Nachfolger Luther'S, unsere Super¬
intendenten und Generalsuperintendenten vertragen nicht einmal die
Wahrheit, wie sollten sie sie rein und ungeschminkt verkündigen?

Mit allem liberalen Absolutismus und allem absolutistischen
Liberalismus, mit aller kommunistischen Vornehmheit und vornehmen
Commuuisterei, mit aller salonmäßigen Glanzwichse, die wir an unser
dickes deutsches Schuhwerk wenden, mit aller unsrer aristokratisch de¬
mokratischen Zwitterbildung von Georges Sand und Gräfin Hahn-
Hahn, von Hegelianismus und Christenthum, von Mirabeauismus
und Marxismus, von Dandysmus und Sanscnlottismus, von aus-


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[0273] selbst der Bettler mag sie nicht leiden, keine Partei auf ihre rauhe Stimme hören, Niemand ihr in Palast »der Hütte auch nur den kleinsten Winkel einräumen. Hörte man auf sie zur rechten Zeit, so würde man sie zur ungelegener Zeit nicht zu fühlen brauchen. Hier¬ aus ist alles Unheil der Staaten, wie der Familien und Individuen bisher hervorgegangen. Wer von sich behauptet, er könne die Wahr¬ heit in allen Fällen und unter allen Bedingungen vertragen, der spricht schon nicht mehr die Wahrheit. Die Bewunderung, die man den Todten zollt, solchen Todten, welche die Wahrheit gesprochen ha¬ ben, ist äußerst wohlfeil und für Nichts zu achten. Mancher Fürst, mancher Hochgestellte ergeht sich vielleicht in den schönsten und an¬ erkennendsten Ergüssen über den freisinnige» Ulrich von Hütten; träte er ihnen aber mit gleicher Kraft, Wahrheit und Entschiedenheit als Lebender gegenüber, so würde man ihn im Lande umherjagen wie den alten Hütten. Die Zeit ist vorüber, wo Luther an den Herzog Moritz und den Kurfürsten Johann Friedrich, welche sich um die die Stadt Würzen befehdeten, die derbkühnen Worte schrieb: „Sie sollten sich schämen vor der Welt; vernünftige Leute würden ihren Krieg ansehen, als schlügen sich zwei betrunkene Bauern um ein zer¬ brochenes Glas, oder zwei Narren um ein Stück Brod." Damals hörte man noch auf die Stimme der Wahrheit, so rauh und grob sie klang; beide Fürsten ließen von der Fehde ab und verglichen sich gütlich. Ja freilich, wäre die Reformation nicht geschehen, jetzt ge¬ schähe sie nimmermehr. Es geht uns mit der Wahrheit wie dem Macbeth mit Banquo's Geist; sie ist unversehens immer wieder da und immer wieder schrecken wir vor ihr zurück wie vor einem Ge- spenste, weil wir uns bewußt sind, sie mehr als einmal meuchlings gemordet zu haben. Die kleinen Nachfolger Luther'S, unsere Super¬ intendenten und Generalsuperintendenten vertragen nicht einmal die Wahrheit, wie sollten sie sie rein und ungeschminkt verkündigen? Mit allem liberalen Absolutismus und allem absolutistischen Liberalismus, mit aller kommunistischen Vornehmheit und vornehmen Commuuisterei, mit aller salonmäßigen Glanzwichse, die wir an unser dickes deutsches Schuhwerk wenden, mit aller unsrer aristokratisch de¬ mokratischen Zwitterbildung von Georges Sand und Gräfin Hahn- Hahn, von Hegelianismus und Christenthum, von Mirabeauismus und Marxismus, von Dandysmus und Sanscnlottismus, von aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/273>, abgerufen am 03.07.2024.