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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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wohnen soll? In welchen Höhlen lauert er, an welchen Ketten liegt
er gebannt? Dieses Volk verkriecht sich vor sich selbst und hat seine
eigene Natur verloren. Ich weiß freilich nicht, wie dies hundertfach
zerfetzte Deutschland dazu kommen kann, einen gemeinsamen Gedanken
zu fassen, um zu sich selbst zu kommen Jeder Fußbreit Landes hat
hier eine andere Gestalt. Hier sind nicht blos, wie bei uns in Italien,
die Städte zu Staaten, die Provinzen zu Reichen und die Stämme
zu besondern Völkern geworden; hier ist fast jedes Dorf gegen daS
andere verbarrikadirt, äußerlich durch Schlagbäume, Mauthen und
Zollsperren, innerlich durch provinzielle Vorurtheile, die jeder kleinste
Ort mit der Halsstarrigkeit eines Vierfüßers festhält. Jeder ist hier
eifersüchtig auf den Andern, will selbständig sein auf Kosten deö
Andern, hält sich gegen den Nächsten verschanzt, und das Wort "Heim¬
tücke" scheint mir so recht eine deutsche Erfindung. Um sich gegen
den Nachbar trotzig abzuschließen, erträgt man zu Hause die feigste
Sklaverei. Diese hundertfache Selbständigkeit der vielen einzelnen
Punkte, die kein großer Gedanke mehr bindet und eint, nennen sie
ihre Freiheiten. In einer Provinz betet man an, was in der näch¬
sten als Teufelei verschrien wird. Einer und derselben Sache baut
man hier Altäre, dort Kerker, und so ist dies tiefsinnige Volk, daS
immer das Größte erdachte und es nie festzuhalten, nie nach außen
hin zu gestalten wußte, unselig zerworfen, zerrissen, in seinen Funda¬
menten aufgelöst. Es ist, als ob der Zwiespalt wie ein Fluch auf
diesem Volk lastete. Aeußerlich ist der Deutsche so phlegmatisch, und
innerlich verzehrt ihn fast ein seltsamer Drang nach den Geheimnissen
der Geisterwelt. Sie bücken sich vor der hergebrachten Tyrannei und
stiften ganz im Stillen heimliche Vereine, wo sie der Freiheit Altäre
bauen. Die Fürsten schwelgen in fremdländischen Genüssen und ver¬
achten die grobe Faust, die sie doch hält und trägt. Die Priester
seufzen oder lächeln über den finstern Glauben und lassen daS Volk
doch in seiner dumpfen Nacht. -- Wie werd' ich die Andersgläubigen
finden? Haben sie sich ganz abgelöst vom Zusammenhang mit ihren
Brüdern? Oder sind sie von einer Sehnsucht nach Einigung mit der
alten Kirche erfüllt? Haben auch sie vielleicht nur die Kraft zum
Zwiespalt, ohne den Punkt zu finden, wo der Christ dem Christen,
der Mensch dem Menschen die brüderliche Hand zum Bunde reicht?
Sie wissen nicht recht, was ihnen Christus ist. Die Einen beten zu


wohnen soll? In welchen Höhlen lauert er, an welchen Ketten liegt
er gebannt? Dieses Volk verkriecht sich vor sich selbst und hat seine
eigene Natur verloren. Ich weiß freilich nicht, wie dies hundertfach
zerfetzte Deutschland dazu kommen kann, einen gemeinsamen Gedanken
zu fassen, um zu sich selbst zu kommen Jeder Fußbreit Landes hat
hier eine andere Gestalt. Hier sind nicht blos, wie bei uns in Italien,
die Städte zu Staaten, die Provinzen zu Reichen und die Stämme
zu besondern Völkern geworden; hier ist fast jedes Dorf gegen daS
andere verbarrikadirt, äußerlich durch Schlagbäume, Mauthen und
Zollsperren, innerlich durch provinzielle Vorurtheile, die jeder kleinste
Ort mit der Halsstarrigkeit eines Vierfüßers festhält. Jeder ist hier
eifersüchtig auf den Andern, will selbständig sein auf Kosten deö
Andern, hält sich gegen den Nächsten verschanzt, und das Wort „Heim¬
tücke" scheint mir so recht eine deutsche Erfindung. Um sich gegen
den Nachbar trotzig abzuschließen, erträgt man zu Hause die feigste
Sklaverei. Diese hundertfache Selbständigkeit der vielen einzelnen
Punkte, die kein großer Gedanke mehr bindet und eint, nennen sie
ihre Freiheiten. In einer Provinz betet man an, was in der näch¬
sten als Teufelei verschrien wird. Einer und derselben Sache baut
man hier Altäre, dort Kerker, und so ist dies tiefsinnige Volk, daS
immer das Größte erdachte und es nie festzuhalten, nie nach außen
hin zu gestalten wußte, unselig zerworfen, zerrissen, in seinen Funda¬
menten aufgelöst. Es ist, als ob der Zwiespalt wie ein Fluch auf
diesem Volk lastete. Aeußerlich ist der Deutsche so phlegmatisch, und
innerlich verzehrt ihn fast ein seltsamer Drang nach den Geheimnissen
der Geisterwelt. Sie bücken sich vor der hergebrachten Tyrannei und
stiften ganz im Stillen heimliche Vereine, wo sie der Freiheit Altäre
bauen. Die Fürsten schwelgen in fremdländischen Genüssen und ver¬
achten die grobe Faust, die sie doch hält und trägt. Die Priester
seufzen oder lächeln über den finstern Glauben und lassen daS Volk
doch in seiner dumpfen Nacht. — Wie werd' ich die Andersgläubigen
finden? Haben sie sich ganz abgelöst vom Zusammenhang mit ihren
Brüdern? Oder sind sie von einer Sehnsucht nach Einigung mit der
alten Kirche erfüllt? Haben auch sie vielleicht nur die Kraft zum
Zwiespalt, ohne den Punkt zu finden, wo der Christ dem Christen,
der Mensch dem Menschen die brüderliche Hand zum Bunde reicht?
Sie wissen nicht recht, was ihnen Christus ist. Die Einen beten zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/255>, abgerufen am 01.07.2024.