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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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der Gedanke das Leben abspiegelte, desto mehr wußte er sich Beifall
zu verschaffen: warum sollte man nicht auch einmal auf den Garde¬
lieutenant verfallen und ihn, wenn nicht gerade an Waffenrock und
Helm, so doch in der Phantasieuniform der philosophischen Phrase
als ein Höchstes und Letztes, als das Ziel und den Endpunkt der
Weltgeschichte hinstellen! Zudem ist der Gardelieutenant doch so zu
sagen auch ein Mensch und außerdem der Unterschied zwischen ihm
und dem reinen Sein einer bekannten und vielberufenen Philosophie,
ein so gar großer eben nicht. -- Ich beruhigte mich also über meinen
Einfall. --

Diese allerneueste Theorie, die Max Stirner angekündigt, laßt
kaum ein anderes Interesse im Menschen zu, als das der gedankenlosesten
Blasircheit, wie sie eben am heutigen Ballet ihren entsprechenden Aus¬
druck gefunden. "Eine leichte Tänzerin gegen tausend in der Tugend
grau gewordne Jungfern!""') Denn was ist Keuschheit und Tugend?
Ein "Sparren", ein lächerliches "Spukgebilde", dem eine "besessene"
Welt huldigt. Der wirklich persönliche und einzig und alleingescheidte
Mensch ist überall dergleichen, was Grundsatze, Ideen, Prinzipien heißt,
hinaus und frei davon. Unverwehrt bleibt es dir freilich, auch einmal
eine Idee zu haben, auch einmal mit einem Grundsatze dich zu sprei¬
zen, auch magst du immerhin einmal ein Prinzip hegen, aber dich ihm
zu eigen geben, es zu deinem We>er erheben, deinem Thun zum
Grunde und zum Ziele legen, das ist Narrheit, die allergründlichste
Narrheit von der Welt. Nur so weit es die Kurzweil schasst, dich
belustigt, weil du gerade nichts Besseres vorhast, etwa weil heute ein
langweiliges Stück im Opernhause gegeben wird, warum solltest du
da nicht auch einmal Eifer für die Tugend zeigen? Aber, um Him¬
melswillen nicht, "hier stehe ich, ich kann nicht anders," denn das,
Freundchen, ist der "Kernspruch der Besessenen".

Da wird einem Manne, der mit Pöklingen handelt, der Korb
mit seiner Waare gestohlen**). Ich kenne den Dieb so wenig, als den
Bestohlenen, was schiert mich die ganze Sache? Ich werde doch nicht
des Teufels sein und etwa gar eine sittliche Entrüstung über das Ver¬
brechen des Diebstahls empfinden.

Ist denn Diebstahl ein Verbrechen, darf man denn ein Dieb
nicht sein ? Verbrechen hin, Verbrechen her; es gibt weder Gutes noch
Böses, weder sittliches noch Unsittliches, weder Recht noch Unrecht.
Das sind alles "pfäffische Unterschiede", die mich, den "Einzigen",
"Eigenen" nichts angehen. Ich werde mich also über den Dieb, je
nachdem es gerade meine Laune erlaubt, amüsiren oder argern, aber




*) Vergleiche M. Stirner, S. 82.
Bergl. dazu S. 102.

der Gedanke das Leben abspiegelte, desto mehr wußte er sich Beifall
zu verschaffen: warum sollte man nicht auch einmal auf den Garde¬
lieutenant verfallen und ihn, wenn nicht gerade an Waffenrock und
Helm, so doch in der Phantasieuniform der philosophischen Phrase
als ein Höchstes und Letztes, als das Ziel und den Endpunkt der
Weltgeschichte hinstellen! Zudem ist der Gardelieutenant doch so zu
sagen auch ein Mensch und außerdem der Unterschied zwischen ihm
und dem reinen Sein einer bekannten und vielberufenen Philosophie,
ein so gar großer eben nicht. — Ich beruhigte mich also über meinen
Einfall. —

Diese allerneueste Theorie, die Max Stirner angekündigt, laßt
kaum ein anderes Interesse im Menschen zu, als das der gedankenlosesten
Blasircheit, wie sie eben am heutigen Ballet ihren entsprechenden Aus¬
druck gefunden. „Eine leichte Tänzerin gegen tausend in der Tugend
grau gewordne Jungfern!""') Denn was ist Keuschheit und Tugend?
Ein „Sparren", ein lächerliches „Spukgebilde", dem eine „besessene"
Welt huldigt. Der wirklich persönliche und einzig und alleingescheidte
Mensch ist überall dergleichen, was Grundsatze, Ideen, Prinzipien heißt,
hinaus und frei davon. Unverwehrt bleibt es dir freilich, auch einmal
eine Idee zu haben, auch einmal mit einem Grundsatze dich zu sprei¬
zen, auch magst du immerhin einmal ein Prinzip hegen, aber dich ihm
zu eigen geben, es zu deinem We>er erheben, deinem Thun zum
Grunde und zum Ziele legen, das ist Narrheit, die allergründlichste
Narrheit von der Welt. Nur so weit es die Kurzweil schasst, dich
belustigt, weil du gerade nichts Besseres vorhast, etwa weil heute ein
langweiliges Stück im Opernhause gegeben wird, warum solltest du
da nicht auch einmal Eifer für die Tugend zeigen? Aber, um Him¬
melswillen nicht, „hier stehe ich, ich kann nicht anders," denn das,
Freundchen, ist der „Kernspruch der Besessenen".

Da wird einem Manne, der mit Pöklingen handelt, der Korb
mit seiner Waare gestohlen**). Ich kenne den Dieb so wenig, als den
Bestohlenen, was schiert mich die ganze Sache? Ich werde doch nicht
des Teufels sein und etwa gar eine sittliche Entrüstung über das Ver¬
brechen des Diebstahls empfinden.

Ist denn Diebstahl ein Verbrechen, darf man denn ein Dieb
nicht sein ? Verbrechen hin, Verbrechen her; es gibt weder Gutes noch
Böses, weder sittliches noch Unsittliches, weder Recht noch Unrecht.
Das sind alles „pfäffische Unterschiede", die mich, den „Einzigen",
„Eigenen" nichts angehen. Ich werde mich also über den Dieb, je
nachdem es gerade meine Laune erlaubt, amüsiren oder argern, aber




*) Vergleiche M. Stirner, S. 82.
Bergl. dazu S. 102.
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[0246] der Gedanke das Leben abspiegelte, desto mehr wußte er sich Beifall zu verschaffen: warum sollte man nicht auch einmal auf den Garde¬ lieutenant verfallen und ihn, wenn nicht gerade an Waffenrock und Helm, so doch in der Phantasieuniform der philosophischen Phrase als ein Höchstes und Letztes, als das Ziel und den Endpunkt der Weltgeschichte hinstellen! Zudem ist der Gardelieutenant doch so zu sagen auch ein Mensch und außerdem der Unterschied zwischen ihm und dem reinen Sein einer bekannten und vielberufenen Philosophie, ein so gar großer eben nicht. — Ich beruhigte mich also über meinen Einfall. — Diese allerneueste Theorie, die Max Stirner angekündigt, laßt kaum ein anderes Interesse im Menschen zu, als das der gedankenlosesten Blasircheit, wie sie eben am heutigen Ballet ihren entsprechenden Aus¬ druck gefunden. „Eine leichte Tänzerin gegen tausend in der Tugend grau gewordne Jungfern!""') Denn was ist Keuschheit und Tugend? Ein „Sparren", ein lächerliches „Spukgebilde", dem eine „besessene" Welt huldigt. Der wirklich persönliche und einzig und alleingescheidte Mensch ist überall dergleichen, was Grundsatze, Ideen, Prinzipien heißt, hinaus und frei davon. Unverwehrt bleibt es dir freilich, auch einmal eine Idee zu haben, auch einmal mit einem Grundsatze dich zu sprei¬ zen, auch magst du immerhin einmal ein Prinzip hegen, aber dich ihm zu eigen geben, es zu deinem We>er erheben, deinem Thun zum Grunde und zum Ziele legen, das ist Narrheit, die allergründlichste Narrheit von der Welt. Nur so weit es die Kurzweil schasst, dich belustigt, weil du gerade nichts Besseres vorhast, etwa weil heute ein langweiliges Stück im Opernhause gegeben wird, warum solltest du da nicht auch einmal Eifer für die Tugend zeigen? Aber, um Him¬ melswillen nicht, „hier stehe ich, ich kann nicht anders," denn das, Freundchen, ist der „Kernspruch der Besessenen". Da wird einem Manne, der mit Pöklingen handelt, der Korb mit seiner Waare gestohlen**). Ich kenne den Dieb so wenig, als den Bestohlenen, was schiert mich die ganze Sache? Ich werde doch nicht des Teufels sein und etwa gar eine sittliche Entrüstung über das Ver¬ brechen des Diebstahls empfinden. Ist denn Diebstahl ein Verbrechen, darf man denn ein Dieb nicht sein ? Verbrechen hin, Verbrechen her; es gibt weder Gutes noch Böses, weder sittliches noch Unsittliches, weder Recht noch Unrecht. Das sind alles „pfäffische Unterschiede", die mich, den „Einzigen", „Eigenen" nichts angehen. Ich werde mich also über den Dieb, je nachdem es gerade meine Laune erlaubt, amüsiren oder argern, aber *) Vergleiche M. Stirner, S. 82. Bergl. dazu S. 102.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/246>, abgerufen am 22.07.2024.