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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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gente anmuthige Novelle gutgemacht. -- Man verzeiht es Gutzkow
gerne, wenn bald diese, bald jene Person aus ihrer Rolle oder aus
der Handlung des Stückes heraustritt, um etwas Geistreiches zu thun,
oder zu sprechen, man übersieht gerne manche Gewaltsamkeit, denn
man weiß, sie bezweckt irgend eine sinnreiche und unterhaltende Über¬
raschung. -- So stellt sich dieses willkürlich componirte, bunte, form¬
lose "Urbild des Tartüffe" nicht als eine harmonische Komödie,
nicht als ein ästhetisches, theatralisches Kunstwerk dar, und wir wissen
ihm keine andere Bezeichnung zu vindiciren, als die der zeitgemäßen,
ungebundenen Satyre, der Gutzkow nur die Nokokomaske umthat.

Das Haus war bei der dritten, wie bei der ersten Vorstellung
überfüllt, so daß auch das Orchester den Zuschauern eingeräumt wer¬
M. G -- n. den mußte.


V.
Notizen.

Giehne gegen die Schweiz. -- Die Dame mit dem Todtenkopf. -- Französi¬
sche Minister und deutsche Poeten. -- Ein Wunder.

-- Alles hat sich gegen die arme Schweiz verschworen. Seit
ihre Gegenwalt so elend, will man auch den Nimbus von ihrer Ver¬
gangenheit nehmen. Den Teil hat die Kritik schon aus der Geschichte
hinausgeworfen; jetzt soll auch Arnold Winkelried als Mythus erklärt
werden. Giehne hat in einem Aufsatz: "Die Schweiz und die Schwei¬
zer", aus welchem die Augsburger Allgemeine Bruchstücke anführt,
mit scharfer Feder nachgewiesen, daß die schweizerische Nationalität eine
hohle Phrase, daß die schweizerische Republik nur ein Aggregat, kein
Organismus, daß ihre Verfassung unhaltbar, ihr Fceiheits- und Ein¬
heitsstreben ein Widerspruch sei, indem sich die alteidgenössische Frei¬
heit mit der Centralisation des neueren Liberalismus nicht vereinigen
lasse; endlich daß die Schweiz ihren Bestand von jeher nur dem Neid
der Machte verdankt habe, wie jetzt die Türkei. Unter Anderm wird
auch die Schlacht von Sempach kritisirt und durch die Widersprüche
in den verschiedenen Berichten darüber gezeigt, daß die Winkelried'sche
That sammt dem modern klingenden Ruf: "Der Freiheit eine Gasse!"
ein spater entstandener Mythus sein müsse. -- Zwischen den Zeilen
dieses Giehne'schen Aufsatzes steht geschrieben: Du sollst getheilt wer¬
den, wenn Du Dich nicht selbst dem freien und einigen Deutschland
anschließen willst. -- Das freie und einige Deutschland muß aber erst
da sein. - Den Schweizern kann ein hartes Wort nicht schaden; sie
verdienen es für den lächerlichen Hochmuth, mit dem sie oft die ge¬
meinsame deutsche Nationalität zu verläugnen suchten. Und übrigens
ist Kritik keine Feindschaft. Erinnern möchten wir nur, daß dieselben
Miserabilitäten, welche Giehne der schweizerischen Geschichte vorwirft,


gente anmuthige Novelle gutgemacht. — Man verzeiht es Gutzkow
gerne, wenn bald diese, bald jene Person aus ihrer Rolle oder aus
der Handlung des Stückes heraustritt, um etwas Geistreiches zu thun,
oder zu sprechen, man übersieht gerne manche Gewaltsamkeit, denn
man weiß, sie bezweckt irgend eine sinnreiche und unterhaltende Über¬
raschung. — So stellt sich dieses willkürlich componirte, bunte, form¬
lose „Urbild des Tartüffe" nicht als eine harmonische Komödie,
nicht als ein ästhetisches, theatralisches Kunstwerk dar, und wir wissen
ihm keine andere Bezeichnung zu vindiciren, als die der zeitgemäßen,
ungebundenen Satyre, der Gutzkow nur die Nokokomaske umthat.

Das Haus war bei der dritten, wie bei der ersten Vorstellung
überfüllt, so daß auch das Orchester den Zuschauern eingeräumt wer¬
M. G — n. den mußte.


V.
Notizen.

Giehne gegen die Schweiz. — Die Dame mit dem Todtenkopf. — Französi¬
sche Minister und deutsche Poeten. — Ein Wunder.

— Alles hat sich gegen die arme Schweiz verschworen. Seit
ihre Gegenwalt so elend, will man auch den Nimbus von ihrer Ver¬
gangenheit nehmen. Den Teil hat die Kritik schon aus der Geschichte
hinausgeworfen; jetzt soll auch Arnold Winkelried als Mythus erklärt
werden. Giehne hat in einem Aufsatz: „Die Schweiz und die Schwei¬
zer", aus welchem die Augsburger Allgemeine Bruchstücke anführt,
mit scharfer Feder nachgewiesen, daß die schweizerische Nationalität eine
hohle Phrase, daß die schweizerische Republik nur ein Aggregat, kein
Organismus, daß ihre Verfassung unhaltbar, ihr Fceiheits- und Ein¬
heitsstreben ein Widerspruch sei, indem sich die alteidgenössische Frei¬
heit mit der Centralisation des neueren Liberalismus nicht vereinigen
lasse; endlich daß die Schweiz ihren Bestand von jeher nur dem Neid
der Machte verdankt habe, wie jetzt die Türkei. Unter Anderm wird
auch die Schlacht von Sempach kritisirt und durch die Widersprüche
in den verschiedenen Berichten darüber gezeigt, daß die Winkelried'sche
That sammt dem modern klingenden Ruf: „Der Freiheit eine Gasse!"
ein spater entstandener Mythus sein müsse. — Zwischen den Zeilen
dieses Giehne'schen Aufsatzes steht geschrieben: Du sollst getheilt wer¬
den, wenn Du Dich nicht selbst dem freien und einigen Deutschland
anschließen willst. — Das freie und einige Deutschland muß aber erst
da sein. - Den Schweizern kann ein hartes Wort nicht schaden; sie
verdienen es für den lächerlichen Hochmuth, mit dem sie oft die ge¬
meinsame deutsche Nationalität zu verläugnen suchten. Und übrigens
ist Kritik keine Feindschaft. Erinnern möchten wir nur, daß dieselben
Miserabilitäten, welche Giehne der schweizerischen Geschichte vorwirft,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/153>, abgerufen am 22.07.2024.