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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Selbständigkeit sucht, der Akt einer Persönlichkeit, welche um jeden
Preis sich festhalten und nicht an die Welt verlieren will. So wie
sie durch ihre hervorstechende sinnliche Erscheinung sich ausschließlich
gegen alles übrige sinnliche Dasein verhält; wie sie, in die Anschau¬
ung ihrer selbst versenkt, gegen dieses durchaus gleichgiltig ist, ebenso
denkt sie auch nicht die Dinge, sie denkt nur sich selber -- und die
sinnliche Selbstschau ist in ihrer theoretischen Form ein unsinnliches
Selbstdenken geworden. Gleichwohl aber ist diese Abstrauion das
Allerunversönlichste, das sich denken läßt, sie ist gradezu die Vernich¬
tung und Nerkehrung aller Individualität in ihr Gegentheil, ein star-
rester Widerspruch gegen alle Unmittelbarkeit des Lebens. Es ist
also die Jugend in dem Dualismus des Seins und des Denkens,
des Lebens und des Wissens befangen, eine eben so absolut persön¬
liche, als auf der andern Seite unpersönliche, dem stete" Schwanken
zwischen diesen beiden Polen preisgegeben. Wer längere Zeit hin¬
durch sich auf Hochschulen aufgehalten, wird dies erfahren haben.
So haben wir es beobachten können, wie in raschester Aufeinander¬
folge sich bald das Interesse der praktischen, rein persönlichen Seite
zuneigte, bald die theoretische Richtung überwältigte, dieser wieder eine
gegentheilige Reaction folgte u. s. f. ") Ein endloser Kreislauf, der
es nimmer zu einer- wirklichen geschichtlichen Entwicklung bringt.
Daraus mag man es auch erklären, daß ein späteres Alter meist
schiefe Urtheile über ein Treiben fällt, dessen rastloses Schwanken der
eignen bewußten Zweckthätigkeit zuwider, eines festen Lebenszweckes
noch gänzlich zu entbehren scheint. Aber man sollte nicht vergessen,
daß solche Erfahrungen von einem Jeden selbst gemacht werden "Nüs¬
sen und nimmer durch die Anderen erhebt werden können. Man
möge über die Jugend sich nicht in nutzlosen Klagen ergehen, daß
sie immer klüger sein wolle, als das Alter, welches das Alles schon
durchgemacht: die wahre Charakterbildung will durch eignes Thun,
durch eigenste Versuche und Erfahrungen errungen sein. Die Studen¬
ten wären eben nicht mehr Studenten, wenn sie über diesen ihren
inneren Widerspruch hinaus wären; sie würden des Strebens ent-



*) In den neuesten Bewegungen haben wir gesehen, daß die Abstraction
übermächtig geworden, und zwar in einer Weise, daß sie die andere Seite
scheinbar gänzlich unterdrückt hatte. Vielleicht daß mit Nächstem diese cbcnw
starr die Herrschaft führt.
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Selbständigkeit sucht, der Akt einer Persönlichkeit, welche um jeden
Preis sich festhalten und nicht an die Welt verlieren will. So wie
sie durch ihre hervorstechende sinnliche Erscheinung sich ausschließlich
gegen alles übrige sinnliche Dasein verhält; wie sie, in die Anschau¬
ung ihrer selbst versenkt, gegen dieses durchaus gleichgiltig ist, ebenso
denkt sie auch nicht die Dinge, sie denkt nur sich selber — und die
sinnliche Selbstschau ist in ihrer theoretischen Form ein unsinnliches
Selbstdenken geworden. Gleichwohl aber ist diese Abstrauion das
Allerunversönlichste, das sich denken läßt, sie ist gradezu die Vernich¬
tung und Nerkehrung aller Individualität in ihr Gegentheil, ein star-
rester Widerspruch gegen alle Unmittelbarkeit des Lebens. Es ist
also die Jugend in dem Dualismus des Seins und des Denkens,
des Lebens und des Wissens befangen, eine eben so absolut persön¬
liche, als auf der andern Seite unpersönliche, dem stete» Schwanken
zwischen diesen beiden Polen preisgegeben. Wer längere Zeit hin¬
durch sich auf Hochschulen aufgehalten, wird dies erfahren haben.
So haben wir es beobachten können, wie in raschester Aufeinander¬
folge sich bald das Interesse der praktischen, rein persönlichen Seite
zuneigte, bald die theoretische Richtung überwältigte, dieser wieder eine
gegentheilige Reaction folgte u. s. f. ») Ein endloser Kreislauf, der
es nimmer zu einer- wirklichen geschichtlichen Entwicklung bringt.
Daraus mag man es auch erklären, daß ein späteres Alter meist
schiefe Urtheile über ein Treiben fällt, dessen rastloses Schwanken der
eignen bewußten Zweckthätigkeit zuwider, eines festen Lebenszweckes
noch gänzlich zu entbehren scheint. Aber man sollte nicht vergessen,
daß solche Erfahrungen von einem Jeden selbst gemacht werden »Nüs¬
sen und nimmer durch die Anderen erhebt werden können. Man
möge über die Jugend sich nicht in nutzlosen Klagen ergehen, daß
sie immer klüger sein wolle, als das Alter, welches das Alles schon
durchgemacht: die wahre Charakterbildung will durch eignes Thun,
durch eigenste Versuche und Erfahrungen errungen sein. Die Studen¬
ten wären eben nicht mehr Studenten, wenn sie über diesen ihren
inneren Widerspruch hinaus wären; sie würden des Strebens ent-



*) In den neuesten Bewegungen haben wir gesehen, daß die Abstraction
übermächtig geworden, und zwar in einer Weise, daß sie die andere Seite
scheinbar gänzlich unterdrückt hatte. Vielleicht daß mit Nächstem diese cbcnw
starr die Herrschaft führt.
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[0125] Selbständigkeit sucht, der Akt einer Persönlichkeit, welche um jeden Preis sich festhalten und nicht an die Welt verlieren will. So wie sie durch ihre hervorstechende sinnliche Erscheinung sich ausschließlich gegen alles übrige sinnliche Dasein verhält; wie sie, in die Anschau¬ ung ihrer selbst versenkt, gegen dieses durchaus gleichgiltig ist, ebenso denkt sie auch nicht die Dinge, sie denkt nur sich selber — und die sinnliche Selbstschau ist in ihrer theoretischen Form ein unsinnliches Selbstdenken geworden. Gleichwohl aber ist diese Abstrauion das Allerunversönlichste, das sich denken läßt, sie ist gradezu die Vernich¬ tung und Nerkehrung aller Individualität in ihr Gegentheil, ein star- rester Widerspruch gegen alle Unmittelbarkeit des Lebens. Es ist also die Jugend in dem Dualismus des Seins und des Denkens, des Lebens und des Wissens befangen, eine eben so absolut persön¬ liche, als auf der andern Seite unpersönliche, dem stete» Schwanken zwischen diesen beiden Polen preisgegeben. Wer längere Zeit hin¬ durch sich auf Hochschulen aufgehalten, wird dies erfahren haben. So haben wir es beobachten können, wie in raschester Aufeinander¬ folge sich bald das Interesse der praktischen, rein persönlichen Seite zuneigte, bald die theoretische Richtung überwältigte, dieser wieder eine gegentheilige Reaction folgte u. s. f. ») Ein endloser Kreislauf, der es nimmer zu einer- wirklichen geschichtlichen Entwicklung bringt. Daraus mag man es auch erklären, daß ein späteres Alter meist schiefe Urtheile über ein Treiben fällt, dessen rastloses Schwanken der eignen bewußten Zweckthätigkeit zuwider, eines festen Lebenszweckes noch gänzlich zu entbehren scheint. Aber man sollte nicht vergessen, daß solche Erfahrungen von einem Jeden selbst gemacht werden »Nüs¬ sen und nimmer durch die Anderen erhebt werden können. Man möge über die Jugend sich nicht in nutzlosen Klagen ergehen, daß sie immer klüger sein wolle, als das Alter, welches das Alles schon durchgemacht: die wahre Charakterbildung will durch eignes Thun, durch eigenste Versuche und Erfahrungen errungen sein. Die Studen¬ ten wären eben nicht mehr Studenten, wenn sie über diesen ihren inneren Widerspruch hinaus wären; sie würden des Strebens ent- *) In den neuesten Bewegungen haben wir gesehen, daß die Abstraction übermächtig geworden, und zwar in einer Weise, daß sie die andere Seite scheinbar gänzlich unterdrückt hatte. Vielleicht daß mit Nächstem diese cbcnw starr die Herrschaft führt. 16»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/125>, abgerufen am 01.07.2024.