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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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ligt und sie zur Gestaltung ihres weiteren Fortgangs zu dem, wenn
auch ferne gelegenen, Ziele entflammt -- von einer solchen Philoso¬
phie kann da nicht die Rede sein. Und so ist es wirklich bei uns
in München bestellt. Seit dem Tode des großen Philologen Ast war
der Lehrstuhl für die Geschichte der Philosophie verwaist, bis sich
endlich im letzten Semester ein junger Privatdocent durch Vorlesun¬
gen über die Geschichte der griechischen Philosophie des einsamen
und verstummten wieder erbarmte. Dies mag, wenn es der Beginn
von weiteren und ausgedehnteren Fortschritten ist, in so weit aller¬
dings Anerkennung verdienen; doch für die nächste Gegenwart kann
nur wenig dadurch erzielt werden. Wäre es, um die Lücke nur ei¬
nigermaßen auszufüllen, nicht besser gewesen, statt der alten die neuere
Philosophie zu wählen? Freilich müßte man unter den jetzigen Um¬
ständen mit der alten Philosophie beginnen, in so weit sie die Grund¬
lage der neueren, und diese blos die festere Begründung, die freiere
Entwickelung und weitere Fortführung der früheren ist. Doch diese
Hauptmomente wären bald abgethan, und es ließe sich nun mit
größeren Gewinne zu einer, wenn auch gedrängten, Darstellung der
Philosophie in ihrer jetzigen Gestaltung und in ihrem Einflüsse auf
die Gegenwart übergehen. Aber gerade dies ihr gegenwärtiges Stre¬
ben und Ringen ist es, was man der Jugend absichtlich vorenthält,
was man nur in den Mund nimmt, um stolz darüber abzusprechen,
oder es schonungslos zu verdammen. Mag man nun an anderen
Hochschulen der Herbart'schen oder Hegel'schen oder irgend einer
anderen Richtung huldigen, man folgt doch einem Systeme, und hat
auch jedes seine Gebrechen, so bleibt es dann die Aufgabe seiner
Anhänger, es von diesen allmälig zu befreien; und für so blind mag
ich die Jünger keiner Schule halten, daß sie die Vorzüge einer an¬
deren gänzlich übersahen. So lange wir nicht ein vollkommenes, all¬
gemein anerkanntes System besitzen, muß sich Jeder, dem es seine
Stellung erlaubt, in dem großen Kampfe mitzustreiten, schämen, wenn
er in feigem Stolze zurückbleibt. Wir hatten Schelling; er wurde
nach Berlin berufen: wir ließen ihn ziehen. Ist nun auch in Schel¬
ling den Berlinern der verheißene und erwartete Messias nicht er¬
schienen, und ist ihnen seine Offenbarungstheorie noch nicht so ganz
offenbar geworden, so hat diese Theorie doch gewiß zu ernsterem
Nachdenken und tieferem Forschen Veranlassung gegeben; wenigstens


ligt und sie zur Gestaltung ihres weiteren Fortgangs zu dem, wenn
auch ferne gelegenen, Ziele entflammt — von einer solchen Philoso¬
phie kann da nicht die Rede sein. Und so ist es wirklich bei uns
in München bestellt. Seit dem Tode des großen Philologen Ast war
der Lehrstuhl für die Geschichte der Philosophie verwaist, bis sich
endlich im letzten Semester ein junger Privatdocent durch Vorlesun¬
gen über die Geschichte der griechischen Philosophie des einsamen
und verstummten wieder erbarmte. Dies mag, wenn es der Beginn
von weiteren und ausgedehnteren Fortschritten ist, in so weit aller¬
dings Anerkennung verdienen; doch für die nächste Gegenwart kann
nur wenig dadurch erzielt werden. Wäre es, um die Lücke nur ei¬
nigermaßen auszufüllen, nicht besser gewesen, statt der alten die neuere
Philosophie zu wählen? Freilich müßte man unter den jetzigen Um¬
ständen mit der alten Philosophie beginnen, in so weit sie die Grund¬
lage der neueren, und diese blos die festere Begründung, die freiere
Entwickelung und weitere Fortführung der früheren ist. Doch diese
Hauptmomente wären bald abgethan, und es ließe sich nun mit
größeren Gewinne zu einer, wenn auch gedrängten, Darstellung der
Philosophie in ihrer jetzigen Gestaltung und in ihrem Einflüsse auf
die Gegenwart übergehen. Aber gerade dies ihr gegenwärtiges Stre¬
ben und Ringen ist es, was man der Jugend absichtlich vorenthält,
was man nur in den Mund nimmt, um stolz darüber abzusprechen,
oder es schonungslos zu verdammen. Mag man nun an anderen
Hochschulen der Herbart'schen oder Hegel'schen oder irgend einer
anderen Richtung huldigen, man folgt doch einem Systeme, und hat
auch jedes seine Gebrechen, so bleibt es dann die Aufgabe seiner
Anhänger, es von diesen allmälig zu befreien; und für so blind mag
ich die Jünger keiner Schule halten, daß sie die Vorzüge einer an¬
deren gänzlich übersahen. So lange wir nicht ein vollkommenes, all¬
gemein anerkanntes System besitzen, muß sich Jeder, dem es seine
Stellung erlaubt, in dem großen Kampfe mitzustreiten, schämen, wenn
er in feigem Stolze zurückbleibt. Wir hatten Schelling; er wurde
nach Berlin berufen: wir ließen ihn ziehen. Ist nun auch in Schel¬
ling den Berlinern der verheißene und erwartete Messias nicht er¬
schienen, und ist ihnen seine Offenbarungstheorie noch nicht so ganz
offenbar geworden, so hat diese Theorie doch gewiß zu ernsterem
Nachdenken und tieferem Forschen Veranlassung gegeben; wenigstens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/81>, abgerufen am 01.09.2024.