Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

am Theater Freude und tieferes Interesse hat; der Romandichter
vor allen andern aber bedarf entweder eines frischen reichen Volks¬
lebens oder einer bunten, großartig gemischten socialen Welt, in der
alle Stände repräsentirt sind und dem Studium blosliegen. Wir
Deutschen aber, so sehr wir immer von dem positiven Leben sprechen,
das der Dichter bieten soll, sehen bei seiner Beurtheilung immer noch
von den Quellen ab, die den Baum seiner Schöpfung tränken müs¬
sen ; wir verwechseln immer noch den Poeten mit dem Gelehrten und
meinen, der Dichter brauche weiter Nichts, als einen Ofen, hinter
dem er hocken kann. Und die vornehmen Schulmeister, die so höh¬
nisch die theoretische, unerquickliche Leblosigkeit unserer Literatur ab¬
kanzeln, vergessen, daß diese Kachene nicht blos für die "krankhafte"
Literatur ein Vorwurf ist, sondern auch ein schlimmes Kompliment
für das saftlose, zage und lendenlahme Leben, welches den Dichtern
als Weide geboten wird. Deshalb flüchtet der Deutsche meist in
die Vergangenheit, in die er wenigstens durch Bücher Zutritt hat,
deshalb werden bei uns so unverhältnißmäßig viel historische oder
historisch sein sollende Romane geschrieben und Dramen -- nicht auf¬
geführt, sondern -- gedruckt, auf Autorskosten. Der Boden der Ge¬
genwart wankt und verliert sich ihm unter den Füßen; er soll Ge¬
sellschaftskreise, Lebensscenen, Volkszustände gesund auffassen und an¬
schaulich darstellen, die er in seinem kleinen Städtchen oder selbst in
seinem Leipzig nie gesehen hat. Glücklich, wem seine Verhältnisse
erlauben, von Zeit zu Zeit auf einer Ferienreise nach Tyrol, dem
Rhein, der Schweiz :c. sich neue lebendige Eindrücke zu holen. Glück¬
lich, wer ein reiches Familienleben hat, das er poetisch gestalten kann.
Der Wiener, der Berliner, wird wenigstens durch die bunte Aeußer-
lichkeit seines großen Stadtlebens auf mannichfaltigere Stoffe geführt.
Sogar Stuttgart, der literarische NivalLeipzigs, ist in dieser Beziehung besser
daran; sein kleines Hofleben, seine schwäbischen Naturreize, die eigen¬
thümlichen Volkshelden in seiner nächsten Nähe regen den schöpferischen
Geist an. In Leipzig wird Pegasus bald zum Ackergaul, der Poet
zum Jndustrieschriftsteller.

Eigentliche gesellschaftliche Mittelpunkte gibt es mit Ausnahme
der geschlossenen Gesellschaften in Leipzig fast gar nicht. Nur wenige
Häuser sind darauf eingerichtet. Abend-Gesellschaften zu empfangen.
Bei dem Musikalienhändler Hofmeister i,t als musikalischer juur iix


am Theater Freude und tieferes Interesse hat; der Romandichter
vor allen andern aber bedarf entweder eines frischen reichen Volks¬
lebens oder einer bunten, großartig gemischten socialen Welt, in der
alle Stände repräsentirt sind und dem Studium blosliegen. Wir
Deutschen aber, so sehr wir immer von dem positiven Leben sprechen,
das der Dichter bieten soll, sehen bei seiner Beurtheilung immer noch
von den Quellen ab, die den Baum seiner Schöpfung tränken müs¬
sen ; wir verwechseln immer noch den Poeten mit dem Gelehrten und
meinen, der Dichter brauche weiter Nichts, als einen Ofen, hinter
dem er hocken kann. Und die vornehmen Schulmeister, die so höh¬
nisch die theoretische, unerquickliche Leblosigkeit unserer Literatur ab¬
kanzeln, vergessen, daß diese Kachene nicht blos für die „krankhafte"
Literatur ein Vorwurf ist, sondern auch ein schlimmes Kompliment
für das saftlose, zage und lendenlahme Leben, welches den Dichtern
als Weide geboten wird. Deshalb flüchtet der Deutsche meist in
die Vergangenheit, in die er wenigstens durch Bücher Zutritt hat,
deshalb werden bei uns so unverhältnißmäßig viel historische oder
historisch sein sollende Romane geschrieben und Dramen — nicht auf¬
geführt, sondern — gedruckt, auf Autorskosten. Der Boden der Ge¬
genwart wankt und verliert sich ihm unter den Füßen; er soll Ge¬
sellschaftskreise, Lebensscenen, Volkszustände gesund auffassen und an¬
schaulich darstellen, die er in seinem kleinen Städtchen oder selbst in
seinem Leipzig nie gesehen hat. Glücklich, wem seine Verhältnisse
erlauben, von Zeit zu Zeit auf einer Ferienreise nach Tyrol, dem
Rhein, der Schweiz :c. sich neue lebendige Eindrücke zu holen. Glück¬
lich, wer ein reiches Familienleben hat, das er poetisch gestalten kann.
Der Wiener, der Berliner, wird wenigstens durch die bunte Aeußer-
lichkeit seines großen Stadtlebens auf mannichfaltigere Stoffe geführt.
Sogar Stuttgart, der literarische NivalLeipzigs, ist in dieser Beziehung besser
daran; sein kleines Hofleben, seine schwäbischen Naturreize, die eigen¬
thümlichen Volkshelden in seiner nächsten Nähe regen den schöpferischen
Geist an. In Leipzig wird Pegasus bald zum Ackergaul, der Poet
zum Jndustrieschriftsteller.

Eigentliche gesellschaftliche Mittelpunkte gibt es mit Ausnahme
der geschlossenen Gesellschaften in Leipzig fast gar nicht. Nur wenige
Häuser sind darauf eingerichtet. Abend-Gesellschaften zu empfangen.
Bei dem Musikalienhändler Hofmeister i,t als musikalischer juur iix


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0600" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181784"/>
          <p xml:id="ID_1669" prev="#ID_1668"> am Theater Freude und tieferes Interesse hat; der Romandichter<lb/>
vor allen andern aber bedarf entweder eines frischen reichen Volks¬<lb/>
lebens oder einer bunten, großartig gemischten socialen Welt, in der<lb/>
alle Stände repräsentirt sind und dem Studium blosliegen. Wir<lb/>
Deutschen aber, so sehr wir immer von dem positiven Leben sprechen,<lb/>
das der Dichter bieten soll, sehen bei seiner Beurtheilung immer noch<lb/>
von den Quellen ab, die den Baum seiner Schöpfung tränken müs¬<lb/>
sen ; wir verwechseln immer noch den Poeten mit dem Gelehrten und<lb/>
meinen, der Dichter brauche weiter Nichts, als einen Ofen, hinter<lb/>
dem er hocken kann. Und die vornehmen Schulmeister, die so höh¬<lb/>
nisch die theoretische, unerquickliche Leblosigkeit unserer Literatur ab¬<lb/>
kanzeln, vergessen, daß diese Kachene nicht blos für die &#x201E;krankhafte"<lb/>
Literatur ein Vorwurf ist, sondern auch ein schlimmes Kompliment<lb/>
für das saftlose, zage und lendenlahme Leben, welches den Dichtern<lb/>
als Weide geboten wird. Deshalb flüchtet der Deutsche meist in<lb/>
die Vergangenheit, in die er wenigstens durch Bücher Zutritt hat,<lb/>
deshalb werden bei uns so unverhältnißmäßig viel historische oder<lb/>
historisch sein sollende Romane geschrieben und Dramen &#x2014; nicht auf¬<lb/>
geführt, sondern &#x2014; gedruckt, auf Autorskosten. Der Boden der Ge¬<lb/>
genwart wankt und verliert sich ihm unter den Füßen; er soll Ge¬<lb/>
sellschaftskreise, Lebensscenen, Volkszustände gesund auffassen und an¬<lb/>
schaulich darstellen, die er in seinem kleinen Städtchen oder selbst in<lb/>
seinem Leipzig nie gesehen hat. Glücklich, wem seine Verhältnisse<lb/>
erlauben, von Zeit zu Zeit auf einer Ferienreise nach Tyrol, dem<lb/>
Rhein, der Schweiz :c. sich neue lebendige Eindrücke zu holen. Glück¬<lb/>
lich, wer ein reiches Familienleben hat, das er poetisch gestalten kann.<lb/>
Der Wiener, der Berliner, wird wenigstens durch die bunte Aeußer-<lb/>
lichkeit seines großen Stadtlebens auf mannichfaltigere Stoffe geführt.<lb/>
Sogar Stuttgart, der literarische NivalLeipzigs, ist in dieser Beziehung besser<lb/>
daran; sein kleines Hofleben, seine schwäbischen Naturreize, die eigen¬<lb/>
thümlichen Volkshelden in seiner nächsten Nähe regen den schöpferischen<lb/>
Geist an. In Leipzig wird Pegasus bald zum Ackergaul, der Poet<lb/>
zum Jndustrieschriftsteller.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1670" next="#ID_1671"> Eigentliche gesellschaftliche Mittelpunkte gibt es mit Ausnahme<lb/>
der geschlossenen Gesellschaften in Leipzig fast gar nicht. Nur wenige<lb/>
Häuser sind darauf eingerichtet. Abend-Gesellschaften zu empfangen.<lb/>
Bei dem Musikalienhändler Hofmeister i,t als musikalischer juur iix</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0600] am Theater Freude und tieferes Interesse hat; der Romandichter vor allen andern aber bedarf entweder eines frischen reichen Volks¬ lebens oder einer bunten, großartig gemischten socialen Welt, in der alle Stände repräsentirt sind und dem Studium blosliegen. Wir Deutschen aber, so sehr wir immer von dem positiven Leben sprechen, das der Dichter bieten soll, sehen bei seiner Beurtheilung immer noch von den Quellen ab, die den Baum seiner Schöpfung tränken müs¬ sen ; wir verwechseln immer noch den Poeten mit dem Gelehrten und meinen, der Dichter brauche weiter Nichts, als einen Ofen, hinter dem er hocken kann. Und die vornehmen Schulmeister, die so höh¬ nisch die theoretische, unerquickliche Leblosigkeit unserer Literatur ab¬ kanzeln, vergessen, daß diese Kachene nicht blos für die „krankhafte" Literatur ein Vorwurf ist, sondern auch ein schlimmes Kompliment für das saftlose, zage und lendenlahme Leben, welches den Dichtern als Weide geboten wird. Deshalb flüchtet der Deutsche meist in die Vergangenheit, in die er wenigstens durch Bücher Zutritt hat, deshalb werden bei uns so unverhältnißmäßig viel historische oder historisch sein sollende Romane geschrieben und Dramen — nicht auf¬ geführt, sondern — gedruckt, auf Autorskosten. Der Boden der Ge¬ genwart wankt und verliert sich ihm unter den Füßen; er soll Ge¬ sellschaftskreise, Lebensscenen, Volkszustände gesund auffassen und an¬ schaulich darstellen, die er in seinem kleinen Städtchen oder selbst in seinem Leipzig nie gesehen hat. Glücklich, wem seine Verhältnisse erlauben, von Zeit zu Zeit auf einer Ferienreise nach Tyrol, dem Rhein, der Schweiz :c. sich neue lebendige Eindrücke zu holen. Glück¬ lich, wer ein reiches Familienleben hat, das er poetisch gestalten kann. Der Wiener, der Berliner, wird wenigstens durch die bunte Aeußer- lichkeit seines großen Stadtlebens auf mannichfaltigere Stoffe geführt. Sogar Stuttgart, der literarische NivalLeipzigs, ist in dieser Beziehung besser daran; sein kleines Hofleben, seine schwäbischen Naturreize, die eigen¬ thümlichen Volkshelden in seiner nächsten Nähe regen den schöpferischen Geist an. In Leipzig wird Pegasus bald zum Ackergaul, der Poet zum Jndustrieschriftsteller. Eigentliche gesellschaftliche Mittelpunkte gibt es mit Ausnahme der geschlossenen Gesellschaften in Leipzig fast gar nicht. Nur wenige Häuser sind darauf eingerichtet. Abend-Gesellschaften zu empfangen. Bei dem Musikalienhändler Hofmeister i,t als musikalischer juur iix

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/600
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/600>, abgerufen am 27.07.2024.